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Holger Schwenke: „Lea Ypi, Free.“

Lea Ypi, Free. Coming of Age at the End of History, deutsch: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, Suhrkamp Verlag,

Von welcher Freiheit reden wir eigentlich, wenn wir über Freiheit reden? Anscheinend gehört das Wort Freiheit zu den Begriffen, die wir einerseits oft mit größter Selbstverständlichkeit gebrauchen und die wir andererseits manchmal nur mit Mühe erklären können.

In einigen Ländern gehört der Freiheitsbegriff (und was immer damit gemeint sein mag) zur Standardausstattung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, sozusagen zur politischen und kulturellen DNA. An erster Stelle sind dabei sicher die USA zu nennen. Deutschland gehört nicht unbedingt dazu. Selten werden Freiheitsvorstellungen hier eigens thematisiert, in der politischen Rhetorik bleibt der Begriff merkwürdig abstrakt und leer. Vielleicht weil Freiheit eine selbstverständliche gesellschaftliche Praxis ist, über die man nicht mehr viel reden muss? Schön wärs.

Und dann gibt es noch Gesellschaften, die erst jüngst mit realen Freiheitserfahrungen konfrontiert wurden und die deren verborgenen ideellen Ansprüche bis heute nicht ganz entschlüsselt haben. Von dem Klärungsprozess, der in diesen Ländern stattfindet, können freiheitsindifferente Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland vielleicht eine Menge lernen.

Als etwa 11jähriges Mädchen schwärmt Lea Ypi von Onkel Envar und am meisten von Stalin. Ihre Lehrerin begeistert sie für seinen freundlichen Schnurrbart und seine lächelnden Augen. Als sie sich eines Tages überglücklich an einen Bronze-Stalin im Park anschmiegt, stellt sie schockiert fest, dass der Kopf – mitsamt dem freundlichen Schnurrbart und den lächelnden Augen – abgerissen wurde. Es herrscht Umsturz im kommunistischen Albanien, Demonstranten auf den Straßen rufen „Freiheit, Demokratie, Freiheit, Demokratie“. Das junge Mädchen wird in den Jahren der Transformation erwachsen und muss lernen, dass die vertraute Welt sich auflöst und anscheinend auf einem Gespinst von Manipulation und Lügen beruht hatte.

Für Lea war vorher ihr Land, Albanien, ein Land, in dem die Freiheit offiziell als verwirklichte, einzig wahre Freiheit galt. Der Sozialismus als reales Vorstadium der kommunistischen Utopie. In der historisch-materialistischen Logik des Sozialismus wird Freiheit von jeher als die Einsicht in die Notwendigkeit bestimmt. Ein Gedanke, den Friedrich Engels geprägt hat, und mit dem sich natürlich bequem jede Art von realer Unfreiheit legitimieren lässt.

Lea Ypi erzählt von der albanischen Variante der Einsicht in die Notwendigkeit, zu der gehörte, dass die Eltern als Abkömmlinge einer „bürgerlichen“ oder noch schlimmer „adeligen“ Familie geborene „Klassenfeinde“ waren und als Systemkritiker, die sie eigentlich auch noch sind, gezwungen sind sich zu verstellen und zu lügen. Sie müssen ihre eigene Tochter belügen und ihr weismachen, dass sie mit einem berühmten Dissidenten „nur zufällig“ den Nachnamen gemeinsam hat, obwohl es doch der eigene Urgroßvater ist. Sie erwähnen Bekannte, die mit 70 Jahren endlich ihren akademischen Abschluss gemacht haben. Eine Formel, die unter Eingeweihten bedeutet, dass jemand endlich aus dem Lager entlassen wurde.

Die Verstellungen, die Lügen und die Selbstverleugnung der Großeltern und Eltern gehen so weit, dass sie nach der Transformation 1991 selbst nicht mehr wissen, was genau sie mit der Freiheit, die sie immer ersehnt hatten, eigentlich anfangen sollen. Sie geraten in die Fallen der real-kapitalistisch verstandenen Freiheit, nämlich der Freiheit andere übers Ohr zu hauen. Die Eltern verlieren ihr Vermögen in dubiosen Geschäftspraktiken zweifelhafter neuer Firmen. Der Vater muss feststellen, dass die neue „Unabhängigkeit ihre Grenzen hatte; er war weniger frei, als er es sich vorgestellt hatte. Obwohl niemand ihm vorschrieb, was er zu sagen und wo er zu sein hatte, merkte er, dass er dennoch bestimmte Sachen sagen und an bestimmten Orten sein musste.“

Alle verstehen die Zeichen der neuen Welt erst langsam oder gar nicht. Mit den Augen des zunächst naiven Mädchens erschließt sich die ganze Wucht des Umbruchs, – etwa wenn sie sich wundert, dass in den Geschäften nicht mehr nur einfach Brot, Milch und Käse verkauft werden, sondern Marken und Labels. Sie erlebt die Transformation als eine verwirrende Umwertung aller Werte. Nichts gilt mehr, alles war Schein. Der gute Onkel Enver entpuppt sich als Tyrann, die Nachbarsjungen als Spitzel, die eigenen Eltern haben sie belogen, – wenn auch zu ihrem Schutz.

Die Freiheit des Sozialismus erweist sich als Propagandalüge und die Freiheit des Westens als brutale Zumutung und als doppeldeutig: Die Dissidenten, die vor der Transformation vom Westen als Helden gefeiert wurden, sind jetzt nur mehr unerwünschte Arbeitsmigranten.

„Das Ende der Geschichte“ im Titel des Buches spielt auf die These von Francis Fukuyama an, der in der allgemeinen Euphorie nach dem Fall der Mauer und dem Untergang des Sozialismus geglaubt hatte – wie viele andere auch – dass die Welt in eine Phase eingetreten war, in der es keine systembedingten Spannungen und Gegensätze mehr gibt und in der sich alle Staaten Schritt für Schritt in gesellschaftlich pluralistische Gemeinschaften westlicher Art verwandeln werden.

Wie wir wissen, kam es anders. Und die Lehre der Geschichte, die es doch noch gibt, ist, dass sowohl die sozialistische Version der Freiheit als auch die des Liberalismus sich bisweilen selbst widersprechen können und daher auch möglicherweise nicht das letzte Wort zum Thema Freiheit sind.

Die Autorin hat die Suche nach der Antwort auf die Frage nach einer gelungenen Freiheit nicht aufgegeben. Sie hat Albanien verlassen, in Italien studiert und lehrt heute in Oxford politische Philosophie. Unter anderem gibt sie dort Einführungsseminare in Das Kapital. Von Karl Marx. Auch das ist Freiheit.

v. Holger Schwenke, Hannover

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