Der amerikanische Historiker Timothy Snyder beklagte unlängst im SPIEGEL, dass es ein Kardinalfehler der deutschen Ostpolitik der letzten 50 Jahre gewesen sei, im Verhältnis zur Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nicht zwischen Schuld und Verantwortung unterscheiden zu können. Wenn die neue Ostpolitik Willy Brandts aus verständlichen Gründen im Zusammenhang mit einer fahrtaufnehmenden Vergangenheitsbewältigung in den 70er Jahren sich eine Absolution der deutschen Schuld vom Breschnew erhoffte, führte dies im Gegenzug dazu, die mangelnde Vergangenheitsbewältigung in der Sowjetunion stillschweigend zu akzeptieren; also Verantwortung abzugeben.
Die repressiven Tendenzen eines sowjetischen „Kriegs- und Siegeskults“, die Putin aufnahm und als „Führer- und Todeskult“ verstärkte, fielen so aus der moralischen Wahrnehmung Deutschlands heraus. Die Blindheit gegenüber der Kontinuität der seit Stalin betriebenen Kolonialisierung der Ukraine war ein Preis, den die deutsche Russlandpolitik auch nach 1991 bereit war zu zahlen. Und teilweise immer noch bereit ist, was die ambivalente Haltung einiger deutscher Politiker und Intellektueller zum jetzigen imperialistischen Krieg zeigt.
Man könnte meinen in dieser verwickelt dialektischen Verknüpfung ein Muster zu erkennen, das als blinder Fleck in der ansonsten bemerkenswert vorbildlichen Kultur der deutschen Vergangenheitsbewältigung verborgen ist. Und man kann sich Günter Grass – ganz unhistorisch und rein spekulativ, aber dennoch plausibel – als einen Erstunterzeichner des berüchtigten Anti-Waffen-Briefes deutscher Intellektueller nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vorstellen.
Seine sogenannte Danziger Trilogie – die Blechtrommel (1959), Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) – galt als Vorzeigeprojekt literarischer Vergangenheitsbewältigung der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Als der Nobelpreisträger 2002 Im Krebsgang veröffentlichte, eine Fortsetzung der Trilogie, entspann sich eine Kontroverse, in dessen Verlauf Grass zugab, dass er als Siebzehnjähriger Mitglied der Waffen-SS war. Eine Tatsache, die er zwar nie geleugnet aber sonst auch nicht eigens erwähnt hatte. Im Zuge dieser Diskussion wurden die frühen Werke neu gelesen und neu bewertet. War es denkbar, dass in der Literatur der sogenannten Flakhelfergeneration (zu der neben Grass auch Böll, Lenz und Walser gehören) eine ähnliche Verwechslung von Schuld und Verantwortung stattfand, die Timothy Snyder festgestellt hat? War es möglich, dass in der besonderen Weise wie diese Autoren sich des Themas Krieg und Faschismus angenommen haben, Verdrängungsstrategien, sozusagen Katz-und-Maus-Spiele der literarischen Art, eingeschlichen hatten?
Die Beantwortung dieser Fragen kann man getrost den Lesern überlassen, denn es lohnt sich unbedingt z. Bsp. Katz und Maus wieder zu lesen. Im Kontext der 50er Jahre wirken die literarischen Verfahren des Textes heute nämlich immer noch erstaunlich zeitgemäß und modern, ungemein reflektiert und selbstkritisch und halten auf den ersten Blick der oben beschriebenen neuen kritischen Perspektive stand. Aber um welche literarischen Verfahren handelt es sich denn eigentlich?
Die Novelle kommt zunächst als ein perspektivisch verschachteltes Erzählexperiment daher, das Fragen aufwirft nach der Echtheit von Erinnerungen und der Authentizität von Schuldeingeständnissen. Der vorliegende Text ist das Ergebnis einer therapeutischen Schreibanstrengung des Icherzählers und der Hauptfigur Pilenz, der mehr als zehn Jahre nach den Ereignissen versucht, mit seiner Verstrickung in die Ereignisse der letzten Kriegsjahre fertig zu werden. Aus der jugendlich eingeschränkten Perspektive des Protagonisten handelt es sich um rein private Verstrickungen, die aber auch der ältere Pilenz erstaunlicherweise nicht in die historische Dimensionen einzuordnen vermag. So weit, so prototypisch für die 50er Jahre.
Der Schuldaspekt, dem sich Pilenz halb reflektierend, halb verdrängend stellt, ergibt sich aus seiner ambivalenten Beziehung zu dem Schulkamerade Mahlke, der seinerseits schuldig-unschuldig verstrickt ist, indem er nämlich adoleszent aufbegehrend ausgerechnet als todesmutiger – oder besser todessüchtiger – Soldat gegen die Verhältnisse rebelliert. Als sozial stigmatisierter Außenseiter erwirbt sich Mahlke im Kriegseinsatz die Anerkennung, die die zivile Gesellschaft ihm versagt hatte.
Pilenz schwankt gegenüber Mahlke zwischen Respekt und Ablehnung und ist an Mahlkes letztendlichem Untergang nicht ganz unschuldig. Das Katz-und-Maus-Spiel ist aus dem Ruder gelaufen. Undeutlich bleibt zum Schluss, wer Täter ist und wer Opfer.
Die titelgebende Maus, das ist zunächst der übergroße Adamsapfel Mahlkes, der zu Beginn der Erzählung das Angriffsziel einer realen Katze wird. Oder doch nicht? „Jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus: und Joachim Mahlke schrie.“ Drei Möglichkeitsformen erscheinen hier in der an sich selbst zweifelnden, sich selbst verstehen und sich selbst entschuldigen wollenden Rückschau des Ich-Erzählers.
Beim Versuch der Vergegenwärtigung der Vergangenheit spielt einem diese naturgemäß einen Streich, nicht nur wenn es um Schuld und Verantwortung geht. Oder geht es beim Erinnern nicht immer um Schuld und Verantwortung?
Grass macht durch sein literarisches Verfahren klar, dass es eine lineare, streng analytische Logik in der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht geben kann. An dieser Tatsache ändert sich auch nichts, wenn der Autor sich damit möglicherweise selbst Absolution erteilen will. Erinnerung ist als Medium nicht sehr zuverlässig, die Literatur sehr wohl. Etwa wenn Schreibprozess und Vergegenwärtigung aufeinander verweisen: „Während ich schwamm und während ich schreibe, und zwischen zwei Stößen notiert – das Wasser trägt ja: es war der letzte Sonntag vor den großen Ferien…“ Und wenn Literatur offenbart: „… Was war damals los? Die Krim hatten sie.“
Holger Schwenke, Hannover