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Andreas Altmann. Einmal rundherum.

Andreas Altmann, Einmal rundherum, 154 S., rororo, 7,95€, Reinbek 2002

Andreas Altmann ist in genau 60 Tagen um die Welt gereist. Schneller als Jules Verne. Warum tut man sich so etwas an? Sicher nicht, um Land und Leute kennen zu lernen, schon gar nicht, um die üblichen Sehenswürdigkeiten abzuhaken. Es muss etwas mit unstillbarer Rastlosigkeit zu tun haben, mit dem Gefühl des Getriebenseins oder sonst einer Art von obsessivem Verhalten.

Tatsächlich kann man aus einem anderen Buch von Altmann erahnen, was ihn umtreibt und ihn nirgendwo heimisch werden lässt. Es heißt Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend.

 

Seine Heimat in der tiefsten bayerischen Provinz und seine Kindheit in einer bigotten Familie sind sicher einige der Gründe, die ihn zum Vagabunden werden ließen. “Ich stehe unter dem Zwang zu wandern und unter dem Zwang zurückzukehren“, bekennt er selbst und umreißt damit den Sinn seines Reisens: es geht nicht ums irgendwo Ankommen, sondern um eine zirkuläre Bewegung, weg von da, von wo man immer wieder aufbricht.

 

Der rastlose Reisende ist auf der Flucht, vielleicht auf der Flucht vor sich selbst.

Es mag noch andere Gründe geben, aber für das Reisen ist eigentlich kein Grund zu schlecht.

Im Übrigen gibt es da noch einen Vertrag mit mehreren Zeitschriften, für die Altmann und ein mitgereister Fotograf von unterwegs wöchentlich Bericht und Bilder abliefern mussten.

 

Ausgangs- und Endpunkt der Reise ist Paris, wo der Autor seit 1992 lebt. Paris ist ein Sehnsuchtsort, ein Projektionsraum. Selbst ein Ort der Fremde für den Autor, ein selbst gewähltes Exil, das ihn keineswegs mit offenen Armen empfangen hat. In einer Art Initiationsszene beschreibt er, bezeichnenderweise am Ende seines Berichts über die Weltreise, wie er anfing sich dort „heimisch“ zu fühlen: dreimal hatte er erfolglos versucht in Paris Fuß zu fassen, beim vierten Mal klappte es: Altmann saß in einem Pariser Café und beging wegen seiner mangelnden Französisch-kenntnisse einen sprachlichen Lapsus. Er bestellte statt einen Café au lait, einen Milchkaffee, einen Café au lit, einen Kaffee im Bett. Das ganze Café brach in herzliches Lachen aus, selbst der versnobte Kellner konnte sich vor Freude nicht halten. Man fand es „tres mignon“, sehr süß, und seit dieser Episode fühlt sich Altmann wohl in der Stadt.

 

Von der neuen Heimat Paris aus geht die Weltreise also über Tunesien, Ägypten, Indien, Kambodscha, Vietnam, Australien, Peru, Kolumbien und die USA.

Wie ein Globetrotter der alten Schule reist er mit Bus, Schiff, Bahn und Motorrad und sammelt unterwegs Geschichten ein: „Immer will ich Vergängliches einkaufen, nie Souvenirs, nie ein Ding, das man nach Hause befördern muss, das mein Leben verbarrikadiert. Will nichts besitzen, das behütet, ja bewacht werden muss. Nie ein Haus, nie einen Quadratkilometer Land, nie eine „Immobilie“, etwas Unbewegliches. Meine Souvenirs, das sind Erinnerungen, mehr oder weniger konfus auf mein Herz, meine Großhirnrinde und die Festplatte meines Mac verteilt.“

 

Wie reagiert man, wenn man jedoch abseits der Touristenströme und Vier-Sterne-Hotels nicht nur auf Exotik und pittoreske Plätze trifft sondern auf jede Menge Armut, Elend, Chaos und Ignoranz. Hier zeigt sich aus welchem Holz man geschnitzt ist, ob man sich dem Chaos wirklich aussetzt oder man zum Zyniker wird.

 

Altmann fühlt mit ohne sentimental zu werden. Was ihn letztlich interessiert, sind persönliche Geschichten und Schicksale und nicht das abschließende Urteil über eine Land und seine Gesellschaft. Er versucht immer wieder Menschen zu begegnen, ihnen zuzuhören und möglichst wenig zu urteilen.

Schöne Geschichten sind dabei entstanden. Geschichten von Menschen, die einer globale Gemeinschaft von Gestrandeten und Dickfälligen, von Streunern und Sesshaften, von Unzufriedenen und Glücklichen angehören. Altmann ist nahe bei ihnen, er reist in klapprigen Bussen mit illegalen Arbeitsmigranten durch Mittelamerika oder raucht Opium in Vietnam.

 

In Kambodscha wird er einmal gefragt, ob er ein „spoke-man“ sei. Nach einigen verschlungenen Übersetzungsversuchen kommt heraus, dass mit ‚spoke-man’ ein Mann gemeint ist, der andere zum Sprechen bringt.

Genauso funktioniert Altmanns Buch. Neben den Beobachtungen und Eindrücken, dem Gewussten und Gelesenem kommt immer wieder ausführlich das Gehörte zum Ausdruck, das, was ihm die Leute erzählen, die er unterwegs trifft.

 

Bei aller Melancholie ist das das Glück des Reisens, von anderen Menschen elektrisiert zu werden: „Wenn das Lesen dieser Seiten irgendeinen Sinn haben soll, dann den folgenden: den Leser mit Sehnsucht vergiften, damit er den Mehlsack in sich vergisst, den Ranzen schnürt und losrennt.“

 

 

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Über IF: Holger Schwenke

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