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Europas Traum*

Ach, Europa, wer bist du? Und wenn ja, wo?

Deine geographischen Konturen sind verwischt. Der Ural gibt eine vage Orientierung, und am Kaukasus scheiden sich die Geister. Georgien? Aserbeidschan? Eigentlich bist du bloß ein Subkontinent Eurasiens.

 

Das Einzige, was wir mit einiger Bestimmtheit sagen können, ist, dass du aus Asien stammst. Halb entführt und halb verführt kamst du auf dem Rücken eines göttlichen weißen Stiers aus der Gegend des heutigen Syrien. Aber deine Herkunft ist dir peinlich, zurück willst du nicht mehr, obwohl doch eine passable Rinderfurt, der bos-porus, direkt vor deiner Haustür liegt.

Auch das Alter Europas bleibt divenhaft im Dunkeln. Betrachtet man es als Kulturraum im weiten Sinne, mit der mediterranen Antike, kommt es auf stolze 3000 Jahre. Im engeren Sinne mit dem Beginn des Christentums und der Dominanz von Mittel- und Westeuropa entspringt seine Geschichte dem Multikulti der Spätantike, und sein Alter halbiert sich glatt.

Der Orient blieb dem Abendland immer suspekt. In Byzanz, dem das humanistische Europa die Vermittlung wesentlicher Texte der Antike verdankt, kann eine von normativer Klassik geprägte Ästhetik bis heute nur die Ungestalt, das schlechthin Ungeformte erkennen. Auf der anderen Seite hielt schon Kolumbus Amerika für degeneriert, als es Amerika noch gar nicht gab, und es ist bis heute die Inkarnation eines zu weit gegangenen Westens geblieben.

Unschlüssig zwischen den Himmelsrichtungen, in einem diskontinuierlichen Raum zu verbleiben, ist nicht die beste Vorraussetzung für eine unproblematische Selbstfindung. Psychologisch gesehen hat Europa sein Abgrenzungsbedürfnis nach innen übertragen: obsessive Markierung von Territorien und in dessen Folge eine endlose Geschichte von Kriegen. Vergegenwärtigt man sich eine Landkarte Europas als Palimpsest aller Grenzverläufe seit dem Limes, so bleiben nur wenige weiße Flecken unberührt von den blutigen Kratzern.

Symptome: Selbstverstümmelung und Suizidgefahr.

Diagnose: Borderline-Syndrom. Mit einem Bein in der Neurose und mit dem anderen schon in der Psychose. Kann die EU Europa retten?

 

Europa ist kein Ort, sondern eine Idee. Sagt zumindest Bernhard-Henry Lévy. Oder liegt hier eine Verwechslung vor?

Dem Projekt Europa fehlt es nämlich gänzlich am Moment der Freiheit und der Revolte, das für den universalistischen Anspruch der amerikanischen und französischen Revolution gesorgt hat. Als Verwirklichung einer >Idee< geht die Union nicht den geraden Weg. Was nicht verwundern kann, wurde sie doch aus der Not geboren, am absoluten Nullpunk der Zivilisation.

De Gaulle und Adenauer folgten ohne Zweifel ihren eigenen Visionen, als sie einen Pakt auf die Zukunft schlossen, aber es war eine junge Französin, die kurz vor Kriegsende Sätze formulierte, die einer alternativen Gründungsakte der EU gut zu Gesicht gestanden hätten. Die Resistance-Aktivistin Marguerite Duras vertraute ihrem Tagebuch einen ganz besonderen Einheitsgedanken an: „Wir gehören zu Europa, (…) wir gehören zur Rasse derer, die in den Krematorien verbrannt werden, (…) wir gehören auch zur Rasse der Nazis. (Duras, S. 57)“ Und: „Die einzige Antwort, die sich auf diese Verbrechen geben lässt, ist die, daraus ein Verbrechen aller zu machen. Es zu teilen. Ebenso wie die Idee der Gleichheit, der Brüderlichkeit.“ (Duras, S. 61)

Diese unio mystica des Abgrunds formulierte sie, als ihr Mann, den sie während seiner Internierung in einem deutschen Konzentrationslager betrogen hatte, mit dem Tod rang. Das Monströse entdeckte Duras mit der ihr eigenen exzentrischen Innerlichkeit bei sich selbst. Doch erst als sie berühmt war, wurde der Text 1985 unter dem Titel La Doleur (Der Schmerz) veröffentlicht.

 

Kurze Zeit später ging unter westdeutschen Intellektuellen Europa als Gespenst um. Man wollte die schmerzhafte Geschichte abschütteln und glaubte einen neuen rettenden Kontinent entdeckt zu haben: Europa als geistige Heimat. Inklusive des Bewusstseins geistiger und kultureller Superiorität.

Nach einem Bonmot aus jener Zeit könne man, wenn man wie durch Zauberhand nichtsahnend in einer x-beliebigen europäischen Stadt aus der U-Bahn steige, sofort erkennen, wo man sei. Anders als etwa in der >kultur- und geschichtsvergessenen Uniformität< Amerikas sei auf die gewachsene Urbanität Europas Verlass. Die Barbaren sind immer die anderen – auch so ein alter europäischer Gedanke.

Als man jedoch wenige Jahre später Gefahr lief, sich dem Visier eines Snipers auszusetzen, wenn man z. B. in Sarajewo aus der U-Bahn stieg, verschwand das neue Steckenpferd Europa schnell wieder in der Versenkung.

Man hatte doch keinen neuen Kontinent entdeckt, sondern bloß den alten europäischen Dünkel.

 

Es war ein Amerikaner, der den europamüden Europäern wieder auf die Sprünge helfen wollte und – hierzulande unerhört kühn – von einem „europäischen Traum“ sprach. Jeremy Rifkin, Ökonom und Soziologe, begeisterte sich an der speziellen Kooperativität und Polyperspektivität des alten Kontinents. Das einzigartige Gemisch aus Individualismus und Mehrfachidentitäten – europäisch, national, regional – galt ihm als Refugium im Malstrom der Globalisierung.

Darüber ließe sich streiten, gibt es doch ebenso gewichtige Argumente, die genau das Gegenteil belegen, dass nämlich das Projekt EU geradezu als Prototyp der Globalisierung zu sehen ist. Darüber hinaus gilt es als genau so wenig ausgemacht, ob der Prozess der europäischen Einheit zum Schutz von kulturellen Eigenheiten in einem Europa der Regionen beiträgt oder zu dessen Nivellierung führt.

Nach pessimistischer Sichtweise ist gar die Demokratie als solche in Gefahr, weil die nationalen Parlamente durch transnationale Zentralisierungseffekte zu marktkompatiblen Ausführungsorganen degradiert werden.

Aber wenn das angebliche Monstrum EU sich doch gar nicht als Popanz erweisen sollte, ist das Dilemma erst recht perfekt. Im Gegensatz zu den in parteipolitischer Taktik befangenen Landesparlamenten nimmt sich Brüssel bisweilen die Freiheit und lässt Vernunft walten. Es beschließt beispielsweise ein Antidiskriminierungsgesetz. Eine Frauenquote wird folgen, und möglicherweise wird sogar über Deutschland der Heilige Geist in Gestalt eines Tempolimits kommen.

Der Traum Europas gebiert Engel. Das Gute kommt von oben, und von unten wächst die Europaverdrossenheit. Keine guten Vorraussetzungen, um – analog zum Verfassungspatriotismus – eine von Eurozentrismus und dem Zwang zur kulturellen Selbstfindung befreite EU-Identität zu entwickeln.

Europakritik ist stattdessen an jeder Ecke wohlfeil zu haben. Der antieuropäische Reflex beschränkt sich dabei keineswegs auf den Stammtisch, alle stoßen ins gleiche populistische Horn und mokieren sich über die angebliche Allmacht der EZB und die Brüsseler Bürokratie. Dass jede mittlere Großstadt in Deutschland mehr Beamte als Brüssel hat, wird dabei geflissentlich übersehen.

Rifkins Angebot vom „europäischen Traum“ wurde in den Feuilletons entsprechend verhalten aufgenommen; man monierte – wohl nicht zu unrecht –, dass es sich hier eher um die Projektion eines vom Bush-Amerika zutiefst enttäuschten Amerikaners handelt.

Tatsächlich mangelt es dem europäischen „Traum“ an der transzendenten Dynamik seines amerikanischen Pendants. Mit ihm lässt sich kaum zum Sprung über new frontiers ansetzen. Zwar erlebt Europa, sofern es sich an die goldene Kette der Union gelegt hat, eine ewige Nachkriegszeit und eine in den meisten Weltgegenden utopisch anmutende Sozialstaatlichkeit, aber Versicherungs- und Gurtpflicht sind eben nicht der Stoff, aus dem Träume sind.

 

Zu einem Traum gehören Menschen, die ihn träumen. Wenn die Europäer sich kokett zieren, könnten wir die Menschen fragen, die zum Teil ihr Leben aufs Spiel setzen, um hierher zu kommen. Vielleicht folgen die Einwanderer einer Faszination von europeaness, die wir gar nicht kennen, und erzählen von erfüllten oder enttäuschten Erwartungen.

Für den in Brüssel lebenden Marokkaner Farouq aus Teju Coles 2011 erschienenem Roman Open City hat sich Europa bereits als Fata Morgana erwiesen: „When I was young, Europe was a dream. Not just a dream, it was the dream: it represented the freedom of thought. We wanted to come here, and exercise our minds in this free space (…) Not America, about which we already had bad feelings, but Europe. But I have been disappointed. Europe only looks free. The dream was an apparition.“ (Cole, S. 122)

Farouq fremdelt mit seiner Herkunftsidentität. Da diese ihn hier aber ohne Ansehen der Person zum Problemfall stempelt, reagiert er seinerseits mit Unbehagen an der neuen Kultur und entwickelt die typischen Ressentiments einer displaced person.

In anderer Weise kann es aber ebenso sein, wenn der Zugewanderte – in positiver Absicht – auf seine Herkunftsidentität festgenagelt wird. Milan Kundera hat in seinem Roman Die Unwissenheit aus dem Jahr 2000 vorgeführt, wie schädlich das Dogma der kulturellen Identität für das Individuum sein kann. Er entwickelt das Schicksal zweier nach dem gescheiterten Prager Frühling aus der Tschechoslowakei geflohener Exilanten, die nach dem Fall des eisernen Vorhangs ihre Heimatstadt besuchen, vor der Folie der großen Heimkehrergeschichte der Odyssee. Kunderas Odysseus träumt jedoch in den Armen Penelopes wieder von Calypso. Seine 20-jährige Irrfahrt hat aus der Heimweh-Nostalgie einen Rückkehr-Blues gemacht und das Zuhause zu einem Ort, an dem einen nur der Hund erkennt.

Beide Protagonisten der „Unwissenheit“ sind in ihren neuen Ländern Dänemark und Frankreich längst >angekommen<. Sie glaubten sich als Individuen gesehen und anerkannt, als sie durch die große historische Umwälzungsmaschine schlagartig in eine Kollektivexistenz zurückgeworfen werden. Ausgerechnet von den wohlmeinenden französischen und dänischen Freunden werden sie zum zweiten Mal zu Fremden im >eigenen< Land gemacht.

„Wieso bist du noch hier?“, werden sie gefragt, als sie anfangs keine große Lust verspürten, nach Prag zu reisen, denn „was >bei euch< vorgeht, ist dermaßen faszinierend!“ (Kundera, S. 5)

Was bedeuten schon Grenzen angeblicher kultureller Entitäten, wenn man täglich die Erfahrung der Entgrenzung macht?

 

Die Frage nach der Identität Europas – als Traum oder Gespenst, als Idee oder Illusion, als Projekt oder Konstrukt – lässt sich nicht nur nicht beantworten, sondern sollte auch lieber gar nicht erst gestellt werden. Was nämlich, wenn das fehlende Alleinstellungsmerkmal – um es mal im Marketingsprech zu formulieren – gar keinen Mangel darstellt, sondern eine reale Leerstelle, einen produktiven Indifferenzpunkt? Wenn Europa die Gnade der Unbestimmtheit ereilt hat, von dem aus eine (vielleicht gute) Zukunft möglich ist?

Ein Leben jenseits der Identitäten ist vorstellbar. Byung Chul Han hat in seinem Buch Hyperkulturalität, Kultur und Globalisierung darauf hingewiesen, dass wir uns ohnehin längst in einer ent-orteten Welt der Hyperkultur bewegen.

Während progressive Konzepte von Inter- und Transkulturalität noch von einer vorfindlichen Kultur, von Austausch oder von Grenzüberschreitung ausgehen, bemüht sich Han das Identitäts- und Substanzparadigma als solches hinter sich zu lassen. Seine Diagnose der Jetztzeit geht von einem durchgreifenden Verlust der Aura des Ortes und des Ursprungs aus. Wir hätten uns demnach längst im ortlosen Hyperraum eingerichtet. Das existenzialistische Pathos des travellers oder des >Wanderers< wäre obsolet geworden, und die Romantisierung der Schwelle oder des Intermundiums nur noch Metaphysik von gestern.

Der neue Kosmopolitanismus ist mit leichtem Gepäck unterwegs: „Der hyperkulturelle Tourist ist immer schon angekommen (…) die Hyperkultur erzeugt ein singuläres >hier<.“ (Han, S. 59)

Wenn die Diagnose stimmt, dann bist du also, Europa, endlich hier, am Un-Ort ohne Utopie. Im Freiraum. Träumend oder wach, auf dem Rücken eines weißen Stiers, und endlich befreit vom Kult der Identität.

 

Literatur

[Bitte vervollständigen: Titel, Erscheinungsort und –jahr für:]

 

T. Cole, Open City, New York 2011

M. Duras, Der Schmerz, deutsch, München, Wien, 1986

B. Chul Han, Hyperkulturalität, Kultur und Globalisierung, Berlin, 2005

M. Kundera, deutsch, Die Unwissenheit, Frankfurt/M, 2002

B.-H. Lévy, Le Point, 1995

J. Rifkin, deutsch, Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt/New York 2004,

 

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*Zuerst veröffentlicht in „Gegenworte“, Hefte für den Disput über Wissen, Heft 30, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademie Verlag, Berlin 2013.

 

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Über IF: Holger Schwenke

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