Vor Kurzem wurde Anne Applebaum der Cundill Prize verliehen – die prestigreichste Prämie auf der Welt für historische Bücher. Den Preis hat die amerikanische Journalistin und Publizistin für den „Eisernen Vorhang“ erhalten, wo sie auf die Frage antwortet, auf welche Weise die Sowjet Union es schaffte die kommunistische Diktatur in sich von ihr unterscheidenden Ländern einzuführen, indem sie die gleichen Methoden benutzte.
Wir möchten Sie daran erinnern, dass für das vorherige Buch „Die Geschichte des GULAG“ in 2004 erhielt Ann den Pulitzer Preis. Im Interview mit der Zeitschrift Inter-Focus.de erzählte Ann Applebaum über ihre Reise ins „Wunderland“ und die Gründe der Begeisterung der Geschichte des Kommunismus.**
– Ann, erinnern Sie sich an Ihre erste Reise in die Sowjet Union?
– Alles fing in 1984 an. Damals war ich noch Studentin und verbrachte in Leningrad einen Monat, wo ich Russisch lernte. Für mich war die Reise in die Sowjet Union, noch vor der Entstehung des Begriffs „Glasnost[1]“ eine Art Übergang ins Wunderland. Dort war alles andersherum. Sogar die Farben verschwanden, und wurden zu schwarz und weiß.
– Dieses Mal beschreiben Sie die Geschichte der Unterwerfung von Ostdeutschland, Polen und Ungarn zwischen 1944 und 1956. Was erweckte Ihr Interesse gerade zu dieser Zeitperiode und diesen Ländern?
– Nachdem ich den Kurs in Leningrad absolvierte, verließ ich die Sowjet Union. Damals setzte ich mich zusammen mit Freunden in den Zug und wir fuhren durch die Ukraine nach Ungarn. Das, was ich dort sah, verwunderte mich stark. Dieses Land sah ganz anders aus. In den Feldern wuchsen Sonnenblumen. Und was mich besonders erstaunte – auf dem Budapest Bahnhof konnte man Mohnkuchen kaufen. Die Menschen auf den Straßen und in den Läden hatten keine Angst mit ausländischen Studenten zu sprechen. Ich war sehr beeindruckt. Damals dachten wir alle, dass „Sibirien bei Checkpoint Charlie anfängt“. Aber das war nicht ganz richtig. Ungarn, auch wenn damals ein kommunistisches Land, unterschied sich ganz stark von der UdSSR.
– Fangen Ihre Abenteuer in Deutschland ab diesem Moment erst an?
– Ja, einige Jahre später richtete ich mich an den Redakteur der Zeitschrift „The Economist“ mit der Bitte mich nach Polen als freiberufliche Korrespondentin zu schicken. In 1988 kam ich in Warschau an. Genau zu dieser Zeit fing der Zusammenbruch des sozialistischen Systems an. In den folgenden Jahren konnte ich mit einigen Augen den Zusammenbruch des Kommunismus in Polen und den Fall der Berliner Mauer beobachten. Zu dieser Zeit musste ich viel durchs Baltikum, Weißrussland und Ukraine reisen. Es schien, als würden die Menschen in diesen Ländern gut verstehen, warum das kommunistische Regime zerbrechen musste. Das Leben im „System“ hatte weiterhin keinen Sinn und war für sie absolut absurd.
Zwei Jahrzehnte später fing ich an mir die Frage zu stellen: wenn das kommunistische Regime so absurd war, wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass es entstanden ist? Wie konnte das grobe System, das ich in den 80er Jahren in Russland beobachtete, sich im Herzen von Mitteleuropa ausbreiten? Dieser Gedankengang führte zu meinen Forschungen, die ihrerseits zu diesem Buch führten.
Anne Applebaum.
– Ann, erzählen Sie bitte über die spezielle Arbeit am historischen Buch.
– Der Prozess des Schreibens inkludiert zwei ganz verschiedene Arbeitsarten. Die erste, die ich auch am meisten von allen liebe – die Forschung. Meiner Meinung nach, unterscheidet sich diese Aufgabe nicht besonders von journalistischer oder sogar Ermittlungsarbeit. Man muss akribisch den Pfaden der erforschten Struktur, der Menschen und der Idee folgen. Ich liebe es in den Archiven zu arbeiten. Man weiß nie, was man heute findet: wichtige Zitate oder eine witzige Anekdote, die in den Akten der Kulturabteilung des Zentralkomitees von Ostdeutschland befindet. Für den „Eisernen Vorhang“ führte ich außerdem an die ein Hundert Interviews durch. Die Gespräche mit den Zeugen der Geschichte geben ein Gesamtbild davon, wie damals wirklich das Leben aussah. Auch wenn diese Menschen damals noch sehr jung waren.
– Wie sieht der zweite Teil der Arbeit mit dem Buch aus?
– Der zweite Teil ist der schwierigste. Der Prozess des Schreibens, die Auswahl der Informationen und der Strukturierung des Buches ist ein langwieriger Prozess. Welches der Kapitel muss das erste sein? Was soll man am besten als Beispiel anführen? Welches Zitat soll genutzt werden? Das nimmt viel Zeit ein. Außerdem arbeitete ich am „Eisernen Vorhang“ für gewöhnlich früh morgens. Und den zweiten Teil des Tages nutzte ich für andere Dinge: Journalistik und Forschung, die ich in den Londoner Organisationen „think-tank“ in den letzten Jahren durchführte. Ich liebe es Zeit mit meinen Kindern zu verbringen, die schon im Teenager-Alter sind. Außerdem, interessieren sie sich, wie ich denke, auch für Geschichte… Leider kann ich nicht acht Stunden lang am Tag schreiben.
– Aus Ihrem Buch folgt, dass mit Hilfe der Geheimpolizei und der Propaganda das sowjetische Regime es schaffte drei absolut unterschiedliche Länder zu unterwerfen. Bedeutet dass, die Stalins Methoden universell waren?
– Viele Diktatoren des 20. Jahrhunderts blieben an der Macht, indem sie Methoden nutzten, die in diesem Buch beschrieben sind. Z.B. Saddam Hussein in Irak und Muammar Ghaddafi in Lybien haben bewusst einige Elemente des sowjetischen Systems adaptiert. Unter anderem auch die Geheimpolizei, die unmittelbar mit Hilfe der UdSSR und der DDR diese „adaptiert“ haben. Aber viele andere brauchten gar nicht die „offizielle“ Hilfe, um sowjetische Methoden zum Halten der Kontrolle im Bereich der Wirtschaft und des Rechts, in der Gesellschaft, in der Kultur und in den politischen Oppositionen zu halten. Eigentlich, war bis 1989 das Regime, dass die UdSSR in Mitteleuropa einführte ein wunderbares Beispiel für alle potenziellen Diktatoren in Asien, Afrika und den arabischen Ländern.
– Ja, das ist eine schreckliche Waffe… Welche Schlüsse kann man daraus ziehen?
– Ich würde sagen, dass das Verständnis der Größe des Schadens und der Einbußen, die die totalitären Regimes mit sich gebracht haben, ist absolut notwendig. Vor allem jetzt, wenn solche „Systeme“ zusammenbrechen. Genauso wichtig ist es zu verstehen, welche Rolle in 2011 der Arabische Frühling spielte. Man muss sich dessen im Klaren sein, dass um das Verpasste einzuholen, ob in Polen oder in Ägypten, wird die „Demokratie“ allein nicht reichen. Posttotalitäre Gesellschaften müssen unabhängige Massenmedien, private Unternehmen und ein Rechtssystem, geschweige denn von einem Bildungssystem, frei von Propaganda, erschaffen oder wiedererschaffen. Man muss eine Möglichkeit finden über die Gesellschaft und die Wirtschaft ohne parteitechnischen Jargon anzuwenden sprechen zu können. Je besser wir die Natur der totalitären Gesellschaften verstehen, desto mehr können wir den Menschen helfen, die versuchen diesen zu ändern.
Fotos aus dem Privatarchiv von Anne Applebaum.
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*Anne Applebaum wurde in 1964 in Washington geboren. Sie studierte französischen Literatur und russischen Geschichte in der Yale Universität. Die Doktorarbeit schrieb sie in Oxford. Während des Schreibens wurde der Studentin plötzlich langweilig und sie entschied sich nach Osteuropa zu reisen. Vor der Abfahrt wollte Anne ihre Eltern in den USA besuchen. Aber ein Tag vor dem Abflug tauschte sie das Ticket um und rettete sich selbst somit das Leben. Es stellte sich heraus, dass in dem Flugzeug, mit dem sie ursprünglich hätte fliegen müssen, libanesische Terroristen eine Bombe platzierten. Ihre Eltern waren einige Tage überzeugt, dass ihre Tochter tot war.
In 1997 sammelte Anne von ihren Bekannten in London einige Hundert Dollar für Aktivisten der antikommunistischen polnischen Solidarität und reiste nach Warschau. Die Journalistin erlernte schnell die polnische Sprache. Das damals verdiente Geld reichte kaum für die Miete einer Ein-Zimmer-Wohnung, nichtsdestotrotz, führte sie dort ein Art politischen Salon durch. Damals lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen – Radoslaw Sikorskij, heute polnischer Außenminister, mit dem sie zwei Söhne hat. Wie die Geschichte sagt, sie fuhren zusammen, um zu schauen, wie die Berliner Mauer fällt und nachdem sie nach Polen zurückkehrten, waren sie schon verheiratet.
Später arbeitete Anne als Vize-Redakteurin der Wochenzeitung „The Spectator“ in London. In 2002-2006 war sie Mitglied des Redakteurenteams „The Washington Post“. Vor Kurzem nahm sie die polnische Staatsbürgerschaft an. Sie lebt und arbeitet in drei Ländern – Polen, USA und England. Autor von vier berühmten Büchern. Für das Buch „Zwischen Osten und Westen“ erhielt sie in 1996 den Adolf Bentink Preis, und für „GULAG: Geschichte“ in 2004 den Pulitzer Preis. Zusammen mit einer Freundin brachte sie das Kochbuch „Rezepte aus meinem Garten“ heraus. Aktuell arbeitet sie an einem neuen historischen Buch, dass dem Holodomor in der Ukraine gewidmet ist.
**Der Autorenstil ist fast vollständig erhalten.
[1] Glasnost (russisch гласность „Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit“) bezeichnet als Schlagwort die nach seinem Amtsantritt (März 1985) von Generalsekretär Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleitete Politik einer größeren Transparenz und Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung (aus Wikipedia).
Tatjana Kolesnitschenko, Spezialkorrespondent in Warschau.
Aus dem Russischen von Yevgeniya Marmer