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Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit

Seit dem frühen 19. Jahrhundert gibt es, zumindest in Europa, Krieg immer im Gefolge aggressiver kulturelle Abgrenzung. Man erinnere sich an die Tod- und Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland, die von beiden Seiten mit einem unvereinbaren Volkscharakter begründet wurde.

 

Was liegt also näher, als das Übel mit der Wurzel auszureißen? Tolstoi forderte klipp und klar: „Wer den Krieg ausrotten will, der muss den Patriotismus ausrotten“.

Patriotismus könnte man beschreiben als eine letztendlich irrationale Bindung an ein Land, an eine Kultur, an Traditionen und Sitten, in die man zufällig hineingeboren wird. Ungebunden an diese lokale Treue wären die Menschen in der Lage, sich den universalen Rechten zuzuwenden und diese zu schützen.

Diese ausschließliche Gegenüberstellung von „bösem“ Patriotismus und „gutem“ Kosmopolitismus ist jedoch nicht der Ausgangspunkt in Appiahs Buch.

Kosmopolitismus darf nämlich seiner Meinung nach keineswegs in Rigorismus verfallen. Er sieht bei einem ungesteuerten Universalismus Tendenzen, die möglicherweise individuelle Rechte und legitime Unterschiede ignorieren. Es wäre schließlich nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass im Namen der Humanität die Rechte von Menschen mit Füßen getreten werden. Appiah ist sich dessen bewusst, wenn er formuliert: “ In gewisser Weise ist „Kosmopolitismus“ nicht der Name einer Lösung, sondern eine Herausforderung.“

 

Der Autor ist Experte auf dem Gebiet dieser Herausforderung, biographisch und intellektuell. Kwame Anthony Appiah wurde 1954 in London geboren als Sohn eines bekannten ghanaischen Politikers und Juristen und einer in Großbritannien geborenen Kinderbuchautorin. Er verbrachte seine Kindheit in Kumasi, Ghana, studierte in Cambridge, lehrte in Yale, an der Cornell-University, in Harvard und ist heute Professor in Princeton, USA. Der „Le Nouvel Observateur“ zählt ihn zu den 25 wichtigsten Denkern unserer Zeit.

 

Gleich mit zwei Unterstellungen, die in der Debatte zurzeit im Umlauf sind, versucht er in „Der Kosmopolit“ aufzuräumen. 1. mit dem Kampf der Kulturen, der besagt, dass kulturelle Einheiten sich diametral unterscheiden und jeweils nach Dominanz streben, und 2. mit der Toleranzvorstellung des Multikulturalismus.

Letzteres Konzept birgt seiner Meinung nach die Gefahr einer gleichgültigen Toleranz, für die alles nur relativ ist und die verbindliche moralische Werte verneint. Demgegenüber pocht Appiah sehr wohl auf universelle Werte. Die Idee, dass politische Konflikte auf die Konflikte zwischen Werten zurückgehen, hält er für schlichtweg falsch. Der Kampf der Kulturen geht wiederum von mehr oder weniger homogenen Identitäten aus, die durch die kulturelle Herkunft determiniert werden. Appiah beschreibt überzeugend die Brüchigkeit dieses Konzepts, das mit der gelebten Realität im Zeitalter der Globalisierung nichts mehr gemein hat – und das nie stimmte.

Viele Anekdoten aus seiner afrikanischen Heimat und geschichtliche Ereignisse bestätigen den Befund, dass Verschiebungen und Brüche in so genanten kulturellen Identitäten der Normalfall und nicht die Ausnahme sind. Lebendig und anschaulich erzählt Appiah von seiner Jugend in Kumasi, wo indische, afrikanische und europäische Elemente nebeneinander existieren bzw. verschmelzen, und wo auch unterschiedliche religiöse Vorstellungen, Hexenglauben und christliche Religion kein Widerspruch sind.

Die Menschen sind nicht gleich, vielleicht ähnlich, und es ist keineswegs notwendig eine universelle Einigung über Werte zu erzielen. Ein Weltbürgertum sei möglich durch Gespräch, in dem „Gewöhnung“ entstehe. Überzeugung sei keineswegs Voraussetzung für ein aufgeklärtes, abgeklärtes Miteinander. Worauf es ankomme, seien bestimmte Formen der Geselligkeit.

Ohnehin gibt es innerhalb einer Gesellschaft genug Meinungsverschiedenheiten, wie jeder von uns weiß. Nirgendwo auf der Welt wird es wohl über brisante moralische Fragen, wie etwa Abtreibung, einen Konsens geben. Zwischen den verschiedenen Argumenten gibt es aber eine Überschneidung, die es ermöglicht, das Gespräch zu führen. In allen Wertesystemen, seien es Religionen oder politische Utopien, gibt es Werte, die keineswegs von allen Menschen geteilt werden, aber eben auch Werte, die universell sind. Appiahs Motto für ein modernes Weltbürgertum lautet: „Universalität plus Unterschied!“

Jeder weiß heute, dass Menschen anderer Kulturen oder Gesellschaften an andere Götter glauben und anderen Wertvorstellungen folgen. Jeder von uns kann erkennen, dass Menschen von anderen Motiven als unseren eigenen angetrieben werden, ohne dass wir gleich diese Werte teilen. Man kann es akzeptieren. „Vor allem aber halten diese lokalen Werte uns nicht davon ab, Freundlichkeit, Großzügigkeit oder Mitgefühl als Tugenden und Grausamkeit, Geiz oder Rücksichtslosigkeit als Laster zu empfinden…“

 

Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit, deutsch: München 2007,

englisch: Cosmopolitanism, Ethics in a World of Strangers, New York, London, 2006

 

 

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