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Der Mensch am Rande des Krieges, oder die Brüche und die Kreuzungen der Schicksale

Der Krieg und der Mensch. Der Mensch und der Krieg. Wie man diese beiden Begriffe auch miteinander verknüpft, sie bleiben sich trotzdem sehr fern, ihre Koppelung ist naturwidrig.

Was Alter und Schicksal angeht, gehöre ich zu der Generation, die heutzutage als „Kinder des Krieges“ bezeichnet wird. Aber kann ein Krieg überhaupt Kinder haben? Eigentlich produziert er nur Tod und Zerstörung. „Während die Mühlsteine hastig die Körper der Menschen zu Mist mahlen“ – das sind die Worte von Rambo über den Fleischwolf des Krieges, und er gehört ja zu dem 19. Jahrhundert. Unsere Eltern haben zwei Weltkriege miterleben müssen, vom Horror derer Rambo nicht einmal geträumt hat.

 

Über die Kriege des 20. Jahrhunderts wurden Berge von Romanen, Chroniken, Nachweise und Erinnerungen der Zeugen geschrieben. Jede Geschichte ist auf ihre Art und Weise einzigartig. Bei jeder könnten die Worte von Okudschawa [1] als Epigraph dienen: „ Ach, du Krieg, was hast du nur angerichtet?!“ Zu meinen Erlebnissen gehören Bombardierungen, Krankenhäuser, Brände, Kälte, Hunger, Meldungen über den qualvollen Tod der Verwandten, Evakuierung in die kasachische Halbwüste…

 

Die Helden meiner Geschichten gelangen nicht in die Mühlensteine des Krieges, sie wurden durch seine Zentrifugalkraft an den Rand zurückgeworfen, aber sie hatten auch in ihrer Jugend genug Herausforderungen. Beide sind Ende 1924 geboren und konnten nicht mal ahnen, dass ihre Wege sich irgendwann kreuzen werden. Erwin wurde in dem kriegsgierigen, jedoch besiegten und von der Bürde der Reparation Deutschland gekrümmten geboren. Er wuchs im saarländischen Dorf in der Familie der gläubigen Katholiken auf und ging auf ein Gymnasium. Mit Hitlers Machtaufstieg hat sich die materielle Lage der deutschen Armut und die von Erwins Familie verbessert, man hat angefangen Kindergeld auszuzahlen. „Ich bin sogar der NDSAP beigetreten“, gibt Erwin verlegen zu. Es war nämlich so: als er achtzehn wurde, hat man die jungen Männer im Gemeinderat versammelt und hat angefangen sie dazu zu agitieren, den Naziparteien beizutreten. Da man in der Familie verstanden hat, dass ihre Tätigkeit fern von den christlichen Geboten war, hat er abgelehnt. Man hat ihm höflich gesagt, dass für ihn in diesem Falle die Türen des Gymnasiums verschlossen bleiben und mit Nachdruck versucht zu erfahren, warum er abgelehnt hat. Der junge Mann hat als Ausrede nichts Besseres als die Ausweglosigkeit gefunden, dass er kein Geld hatte, um die Gebühren zu bezahlen. Nach einer Woche hat man Erwin mit Freude mitgeteilt, dass die Parteigenossen sich bereiterklärt haben, für ihn die Gebühren zu bezahlen. Es gab für ihn also keinen Ausweg. „Ich bin aber nicht zu den Versammlungen gegangen und habe das Parteiabzeichen unter der Jacke getragen, und dann hat man mich in die Bundeswehr einberufen“.

 

Mein zweiter Held kam im eisernen Moskau zur Welt, das sich noch nicht von dem Verfall der Revolution und dem Bürgerkrieg erholt hat. Am Tag vor Weihnachten wurden in der jungen Familie des Ingenieurs-Brückenbauers Nikolaj Dankov und seiner Frau Valentina Zwillinge geboren, die nach den heiligen Fürsten-Märtyrern Boris und Gleb genannt wurden. Der Winter war bitterkalt, es gab nichts zum Heizen und die Kleinen bekamen eine Lungenentzündung. Der kleine Gleb starb und somit verlor Boris seinen Bruder.

Der Vater studierte anfangs in der Warschauer Technologiehochschule und später im Jahr 1917 in der Moskauer Universität. Er war ein Fachmann und war beim Bau der Eisenbahn in dem neuen Regime gefragt, somit ist die Familie öfters umgezogen, bis sie sich schließlich in Sumy, Region Charkow niedergelassen hat. Hier wurde der kleine Dankov eingeschult.

 

Boris Nikolajevitch kann sich daran erinnern, dass er mit seinen Eltern in einer Dreizimmerwohnung in einem tollen Haus mit Marmortreppen und einem großen Obstgarten lebte. Zu dem Haus führte eine Lindenallee. Seine Mutter, Valentina Stepanovna wurde noch vor der Revolution in Nischni Nowgorod in einer Familie eines Beamten der mittleren Verwaltungsklasse geboren. Früh verlor sie ihre Mutter, die, wie die meisten Einwohner Rigas nur deutsch sprach. Sie erwies sich als ein Mensch der alten Schule, sprach mehrere Sprachen, hat viel gelesen und musiziert und hat ihrem Sohn das Klavierspielen beigebracht. Anfangs baute der Vater den Weg von Sumy nach Belgrad und wurde danach für eine lange Zeit in den Fernen Osten abkommandiert. Die Briefe und Geldüberweisungen kamen aus Chabarowsk.

Die Schulzeit von Boris war erfolgreich: die Eltern haben sowohl das Anerkennungsschreiben mit dem Beenden der 7.a Klasse der Schule Nr. 4 vom 17. Juni 1940 aufbewahrt, als auch die Bescheinigung über die Reise zu der landwirtschaftlichen Ausstellung nach Moskau nach dem Beenden der 8. Klasse, die er als Musterschüler als Belohnung bekam. Sie wurde am 14. Juni 1941 ausgehändigt. Eine Woche später fing der Krieg an.

 

Im Herbst kehrte der Vater zurück. Die Eltern waren verwirrt und wussten nicht wohin. Letztendlich ist es ihnen gelungen eine Fuhre zu organisieren. Sie nahmen ein paar Koffer und einen Korb mit Lebensmitteln und haben einen Versuch zur Evakuierung unternommen. Bei der nächsten Abfahrt sind sie jedoch auf einen Soldaten in der grünen Uniform gestoßen. Er fragte: „Jude?“ Die Frage war verständlich, denn Boris hat in der Schule Deutsch gelernt.

Als sie zurückkehrten, fanden sie ihre Wohnung besetzt und teilweise ausgeplündert vor. Sie mussten sich also mit einem Zimmer zufriedengeben. Anfangs haben die Deutschen die Einwohner zum Arbeiten nach Deutschland eingeladen. Einige haben diese Möglichkeit genutzt, bei der Ankunft jedoch hat man sie in die Landwirtschaft geschickt, die Stadtbewohner waren mit dieser Arbeit nicht vertraut. Ihre Briefe, die sie in die Heimat schickten, waren nicht aufmunternd und somit gab es auch keine Freiwilligen mehr, die bereit waren, in das fremde Land zu fahren. Somit nahm die Razzia ihren Anfang. In so eine geriet im November 1943 auch der junge Borja Dankov, damals als der Schüler einer deutschen Schule. Er wurde auf der Straße gepackt und gegen seinen Willen nach Deutschland geschickt.

So haben sich erstmals die Wege der beiden Helden meiner Erzählung gekreuzt. Während der in die Armee einberufene Erwin, der an dem Drang nach Osten teilnahm, in die Ukraine geriet, wurde Boris Dankov mit einem Güterzug aus der heimischen Ukraine in den Westen, nach Deutschland verfrachtet.

 

Die militärische Einheit von Erwin gelang in die Einschließung. Zehn deutsche Divisionen gerieten in den Kessel von Tscherkassy (die berühmte Korsun-Schewtschenkiwskyjer Operation). Nicht viele haben überlebt. „Man hat uns befohlen mit eigenen Kräften aus der Einschließung herauszukommen. Wo sollten wir hin? Der tiefe Schnee dämpfte die Töne, wir konnten die Kanonade nicht hören und sind auf gut Glück gegangen. Wir sind in einer tiefen Schlucht steckengeblieben. Es wurde Nacht. Im Dunkeln sind wir über Leichen und zurückgelassene Ausrüstung gestolpert.“ Nach zwei schlaflosen Nächten hat sich der deutsche Soldat auf die Deichsel des Wagens, indem die Toten lagen, abgestützt und ist eingeschlafen. Als er aufwachte, war keine Seele da. Aus Nirgendwo erschien ein junger SS-Mann, der vorschlug, bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Er hatte ja auch keine andere Wahl. Erwin erklärte, dass alle SS-Männer auf der Innenseite des Armes, nah an der Achsel ihre Blutgruppe tätowiert haben, sie kümmerten sich um das Elitemilitär und haben nicht zugelassen, dass diese gefangen genommen werden. Vielleicht hat man sie aber auch mit Absicht auf diese Weise gekennzeichnet, damit sie nicht auf den Gedanken kommen, die Gefangenschaft als Rettung in Erwägung ziehen.

Ein Kampf war nicht mehr nötig gewesen, da die drei russischen Soldaten schon nebeneinander standen und den gewöhnlichen Forderungen folgten: Waffen auf den Boden und Hände hoch! Erwin gehorchte, dabei vergaß er völlig, dass sich eine Handgranate in seiner Tasche befand. Der Russe fand zwar die Granate, aber die Tatsache, dass es verheimlicht wurde, hatte keine Folgen. Der Offizier, zu dem sie gebracht wurden, fragte nach einer Zigarette. Erwin hat nie geraucht, aber das rief keinen Zorn hervor. Jedoch konnte Erwin den Zorn der Vorgesetzten schon bald erfahren. Sie waren circa zehn Gefangene und wurden in einem Kuhstall eingesperrt, sie hatten tierischen Durst. Ein junger Soldat hatte Mitleid mit den Gefangenen, verließ seinen Posten und brachte ihnen einen Eimer mit Wasser. Für das Fehlen schlug ihn der Offizier ins Gesicht, bis es blutete. Erwin war entsetzt. Ein deutscher Offizier konnte auf der Stelle einen erschießen, aber schlagen – das war unerhört.

 

Heute ist Erwin fast neunzig Jahre alt, aber seine Erinnerungen erfassen noch viele Einzelheiten. Er kann sich daran erinnern, wie man sie in der Eiseskälte zum Zuckerwerk in Uman trieb. Er schleppte sich aus den letzten Kräften, hatte Angst hinzufallen. Als er klein war, hat er ein Buch über Napoleons Zug nach Russland gelesen. Der Imperator befahl die verletzten russischen Gefangenen zu erschießen, weil sie zur Last fielen. Erwartet ihn etwa dasselbe Schicksal? Aber nicht er ist in den Schnee gefallen, sondern ein Bursche, der neben ihm ging: „Das war’s! Ich kann nicht mehr.“ Zwei russische Soldaten näherten sich, aber trauten sich nicht, ihn zu erschießen. Erwin blieb neben ihm stehen. Die Frage des Offiziers, ob er sein Bruder sei, hat er abgestritten, wofür er sich noch lange Zeit Vorwürfe gemacht hat, aber er ging trotzdem nicht weg. Erwin hat ihn später in Deutschland nach dem Krieg wieder getroffen.

Nach einigen Tagen, als sie in Zolotonosha[2] ankamen, hatte Erwin kein Gefühl mehr in den Beinen. Im Krankenhaus wurde dann entschieden: Amputation. Abends geschah jedoch etwas Unerklärliches. Es erschienen zwei Omas in „hustochki“[3] (Erwin hat ab und zu ein ukrainisches Wort benutzt) und entführten den unbeweglichen Erwin. Sie kamen ihm alt vor, in Wirklichkeit waren es junge Frauen, die von dem Krieg ausgelaugt waren. Sie griffen ihm unter die Arme und schleppten ihn auf irgendeinem Leinen aus dem Krankenzimmer. Er sah jünger aus als er war (er war 19), das Gesicht zart, schön, ein echter Engel, nur ohne Flügel und runde Bäckchen, er wog nicht mehr als 40 Kilo. Nachdem sie den Deutschen in die Hütte gebracht hatten, fingen sie an, seine Füße mit aufgewärmtem Pferdemist zu belegen. Er wurde auf diese Art etwa zehn Tage behandelt und geheilt.

   Danach hat man ihn in die Bergwerke nach Donezk geschickt, dort wurde er jedoch für arbeitsunfähig erklärt und nach Uman in das Hospital geschickt. Die erste Etage wurde von sowjetischen Verletzten besetzt, die zweite mit den deutschen. Erwin sagt, dass sie aus einem Kessel gegessen haben und auch die Ration war die gleiche. Er hat sie sich eingeprägt: 600 Gramm Brot, morgens Hirsebrei und ein Löffel Zucker, mittags Suppe und ein Stück amerikanisches Frühstücksfleisch. Er sagt, er habe kein Recht darauf, auf das sowjetische Volk, auf die sowjetische Armee, sauer zu sein.

Im Guten erinnert er sich an den Anführer des medizinischen Dienstes, einen Juden, Leiter des Hospitals, der die deutschen Verletzten dazu gezwungen hat, auf dem Hof zu arbeiten. „Er hatte Recht, im Mai war es warm und auf der frischen Luft ließ es sich besser atmen als auf den Pritschen in den überfüllten Krankenzimmern, wo die eitrigen Kranken lagen. Die Arbeit haben wir uns selbst ausgedacht. Auf dem Hof lagen Berge von roten und gelben Backsteinen, wir haben sie zerschlagen und Mosaik draus gemacht, haben eine Sonnenuhr gebaut und sie mit Ornamenten verziert“.

Der gefangene Erwin schaffte es auch als Holzfäller in der Region von Tscherkassy zu arbeiten. Sie haben jeden Tag die Norm erfüllt, manchmal sogar vor dem Ende des Arbeitstages. So wie es aussah, waren die Normen nicht sehr hoch. Die Begleiter waren barmherzig und erlaubten manchmal, Kartoffeln auszugraben und zu backen, die einheimischen Frauen gaben etwas Brot. Einmal trafen sie ein Brigade Deutscher, die „Hitler kaputt!“ geschrien haben. Das war an dem Tag des nichtgelungenen Anschlags auf Hitler im Juli 1944 (Operation „Walküre“, im Zentrum war von Staufenberg).  

 

Für seinen Retter hält Erwin den jüdischen Arzt, der so kleinwüchsig war, dass sie ihn als Gnom bezeichnet haben. „Dank ihm wurde ich für arbeitsunfähig erklärt, ich gelang in den zweiten Transport im August 1945 und wurde in die Heimat geschickt“. Die Grenze zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Besetzungszonen hat Erwin am 8. September überquert, es war sein Geburtstag. An diesem Tag wurde er 21 Jahre alt. Der Bürgermeister von Göttingen, einer altertümlichen Universitätsstadt (dort hat Pushkins Lenskij studiert – „mit einer Göttinger Seele“), hat die Gruppe der Gefangenen empfangen und Erwin kann sich noch heute an den Geschmack des Törtchens erinnern, das man ihnen anbot. Wir wissen ja, wie man unsere Soldaten empfangen hat, die aus der deutschen Gefangenschaft zurückkehrten, welches „Geschenk“ sie in der Heimat erwartet hat!

 

Welches Schicksal erwartete denn den von den Deutschen gefangenen Boris Dankov? „Zuerst sind wir auf Karren gefahren, danach hat man uns in die Güterwagons verfrachtet. Wir wurden nach Hannover in das Lager für Ukrainer gebracht. Da ich etwas Deutsch konnte, wurde ich als Schreiber bestimmt und verfasste Dokumente“.

Mit dem Brustzeichen „Ost“, was „Ostarbeiter“ hieß, wurde er aus Hannover in die kleine Stadt Cuxhaven geschickt, in eine Fabrik, in der Ventile und Hähne hergestellt wurden. Dort haben polnische und französische Kriegsgefangene gearbeitet. „Ich konnte zeichnen und habe mich zu Hause für die Projekte meines Vaters interessiert, ich konnte die Zeichnungen lesen und wurde nicht in die Werkstatt, sondern ins Büro eingeteilt. Wir lebten in Baracken, in einem Zimmer waren 4-6 Personen. Wir haben uns überwiegend von Steckrüben ernährt.“

 

„Ich war von Natur aus still und ruhig, eine echtes Muttersöhnchen, aber ich hatte einen ukrainischen Kumpel, er war der Anführer. Als der Sommer 1945 kam, meinte er, dass wir uns nach Hannover, aber auf keinen Fall in das Lager für die Ukrainer bewegen sollten.

Wir waren zu Fuß unterwegs oder sind mit den seltenen Zügen „schwarz“ gefahren. In Hannover konnte ich Abitur machen (Boris Nikolajevitch spricht fließend Russisch, benutzt jedoch ab und zu deutsche Fachbegriffe). Ich hab dazuverdient, wo es nur ging: auf Messen, bei Beladung und Entladung von Wagons. Im Jahr 1947 wurde ich in der technischen Universität aufgenommen. Ich war sehr gut, absolvierte das Studium in 9 Semestern und bekam ein Diplom mit Auszeichnung. Mein erster deutscher Pass wurde mir 1950 vor dem Beenden der Hochschule in Hannover überreicht“. Ich habe diesen Pass gesehen. Dort steht, dass sein Besitzer sich unter dem Mandat der internationalen Organisation der Flüchtlinge bei der UNO befindet.

 

Nachdem ich über das Schicksal von B.N. Dankov erfahren habe, habe ich mich an die jüngsten Untersuchungen von Georg Werbizkij und von meinem guten Bekannten Paul Poljan gewendet, die sich der Geschichte der Bürger von UDSSR widmen, die gegen ihren Willen zum Arbeiten während des zweiten Weltkrieges nach Deutschland gebracht wurden. „Gegen seinen Willen“, „Der Mensch am Rande des Krieges“, „Die Opfer zweier Diktaturen“, so heißen diese Bücher. Es hat sich herausgestellt, dass es 5 Millionen der nach Deutschland Verfrachteten gab. Laut dem Abkommen von Jalta vom 11. Februar 1945 mussten alle sowjetischen Bürger mit dem Ende des Krieges zurück in die Sowjetunion deportiert werden. Die Jagd nach ihnen dauerte noch bis Mitte der 50ger Jahre an. Was erwartete sie in der Heimat? Welches Schicksal? Festnahmen, Lager, das Brandmal des „deutschen Mietlings“, des Verräters. Der jüngste Nachweis – „Das Weinen um die rote Hure (plach po krasnoj suke), ein Buch von Inga Petkevich, die Frau des Schriftstellers Andrej Bitov. Boris Nikolajevitch Dankov zählt zu den Nicht-Zurückgekehrten“.

 

Nach dem Beenden der technischen Hochschule wurde er in der Fabrik aufgenommen, die Traktoren und landwirtschaftliche Technik herstellte, in die Abteilung, wo neue Motoren konstruiert und getestet wurden. In dieser Zeit war die Arbeitslosigkeit ziemlich hoch, es wurde das ökonomische Wunder erwartet, aber das Schicksal lächelte ihm zu, der Abteilungsleiter erinnerte sich an ihn, weil er sein Student war.

Zu dem Wendepunkt seiner Arbeitsbiografie zählt Dankov das Jahr 1956, als man ihn als Ingenieur bei der Firma SteAEG in Essen angenommen hat. Zu seiner ersten Arbeit gehörte dort das Projekt des Kessels für das größte Kraftwerk Deutschlands. Mit den Kesseln wird er sich auch weiterhin beschäftigen, er wird nicht nur in ganz Deutschland rumkommen, sondern auch in Holland, Belgien, Österreich. In Essen musste er ein Zimmer im Haus von Herr Stein mieten, der ein Arbeiter der Administration von Krupp war. Nach drei Jahren heiratete er die Tochter des Hausherrn, Ilsa. Zu dem Zeitpunkt hatte Boris bereits die deutsche Staatsangehörigkeit.    

 

Welchen Weg nahm denn das Schicksal des aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Erwin? Zu Hause galt der junge Mann als vermisst. Mehr noch, der zurückgekehrte Waffenbruder sagte seinem Vater, dass sein Sohn ums Leben gekommen sei. Als er die Straße entlang ging, sprangen die Einwohner zu allen Seiten und waren entsetzt: ein Geist!

Noch als Erwin in der Gefangenschaft war, legte er ein Gelöbnis ab, wenn er überlebt, wird er zu einem Geistlichen. Nach dem Absolvieren des Gymnasiums 1947, wird er in der theologischen Akademie bei Koblenz aufgenommen. Hier dauerte sein Studium sechs Jahre, die nächsten sechs Jahre verbrachte er in Rom bei Vatikan. Er lernte in Russkikum, da wo sich das östliche Institut befand (während des Krieges wurden dort die Juden versteckt).

Russland hat ihn nicht „gehen lassen“. Er hat seine Dissertation zum Thema „Der landwirtschaftliche Aufstieg nach der Beurteilung der orthodoxen Bischöfe“ geschrieben und verteidigt. Anfang des 20. Jahrhunderts forderte der Oberstaatsanwalt der Synode K.P. Pobedonoszew (jeder kann sich noch an die berühmten Zeilen von Block erinnern: „Pobedonoszew breitete seine Eulenflügel über Russland aus“) von allen Bischöfen Berichte der Tätigkeit aller Diözesen. Es wurde sehr viel Material gesammelt. Es ist unbekannt wie und warum, aber das Archiv befand sich im Russikum. Vater Erwin wählte für die Untersuchung den landwirtschaftlichen Aufstieg. Mithilfe der Materialien der Dissertation entstand ein Buch, das sich als ein spannender historischer Roman liest. Es ist zwar auf Deutsch, jedoch hat der Autor einen Haufen Berichte auf Russisch gelesen und ich kann nur bezeugen, sein Russisch einfach großartig ist.

Da er in der Priesterwürde ordiniert ist, bekam er der Tradition nach den lateinischen Namen Pater Immikus. Er konnte damals selbst noch nicht erahnen, dass Pater Immikus zu Vater Erwin wird. Im Jahr 1958 hat die östliche Kongregation des Vatikans angefangen, sich für die Lage der russischen Katholiken in Deutschland zu interessieren. Während der viermonatigen römischen Ferien hat Erwin alle fünf Diözesen auf der Ruhr besucht auf der Suche nach russischen Menschen. In den vier Monaten fand er viele Russen, die im Ruhrpott lebten, jedoch gab es unter ihnen nur wenige Katholiken, die meisten erwiesen sich als Orthodoxen. Im Vatikan fragte man ihn, ob er mit diesen Menschen arbeiten wolle, ohne lange zu überlegen, war er einverstanden.

 

Hier haben sich die Wege und Schicksale des Kriegsgefangenen Deutschen und des russischen Nicht-Zurückgekehrten und heute des Geistlichen und des Ingenieurs einer großen Firma. Als Erwin auf der Suche nach russischen Menschen durch die Viertel des ziemlich zertrümmerten Essens herumging, klingelte er an der Tür von Boris Dankov. Für beide war dieses Klingeln ein Meilenstein im Leben. Ihre Freundschaft ist über fünfzig Jahre alt. Darüber, wie ehrlich und stark diese Freundschaft ist, kann danach geurteilt werden, dass Vater Erwin die orthodoxe Kirche, die er in der Nähe von Dortmund errichtet hat, nach Boris und Gleb benannt hat. „Der Bischof von Düsseldorf Longin erkennt meine Arbeit an, er diente eine Messe in meiner Kirche und verlieh mir ein goldenes Kreuz. Der orthodoxe Bischof hat mich, den Katholiken, ausgezeichnet!“, sagt Erwin voller Stolz.

Die Gerüchte über Vater Erwin erreichten mich schon vor langer Zeit. Ein bewundernswerter Deutscher, eigentlich Katholik, doch hält seine Messe in der orthodoxen Kirche. Spricht Russisch. Ist bereit jedem zu helfen, der Hilfe braucht. Immer am Arbeiten und Kümmern. Ein Asket und völlig selbstlos. Ein total einzigartiger Mensch!

Boris Dankov, Vater Erwin und Grete Jonkis

Als ich mich mit Vater Erwin in dem gemütlichen und gastfreundlichen Haus der Dankovs getroffen habe, war ich überrascht, wie zurückhaltend dieser fast schon legendäre Mensch doch ist. Dünn, unförmig in einem alten Sakko, ungepflegt, versteckt sein Gesicht im grauen Bärtchen. Und das soll ein Deutscher sein? Ein typischer Einwohner eines russischen abgelegenen Ortes, dabei einer der Bedürftigen und doch delikat. Es ist Dankov, der eher wie ein Deutscher aussieht, glattrasiert, akkurat, mit einem modernen Foulard um den Hals.

 

Vater Erwin ist nicht nur in der Kirche von Boris und Gleb tätig, sondern fährt auch ab 1966 nach Russland. „Nach der Gefangenschaft verspürte ich eine unerklärliche Sehnsucht nach diesem Land, sagt er und lässt seinen Blick nach unten sinken. Verstehen Sie doch mal, ich habe einen ganz anderen Eindruck von den Russen bekommen, als uns unsere Propaganda einflößte. Wenn ich von „Russen“ rede, meine ich die Einwohner der Ukraine und von Weißrussland, wo ich jetzt auch hinfahre. Im Vatikan werden meine Reisen nicht verurteilt, es ist mir erlaubt, drei Monate im Osten zu verbringen. Sie zählen zu Dienstreisen, aber werden dennoch nicht bezahlt. Bei Ihnen ist damit der unbezahlte Urlaub gemeint“.

„Danach strebt meine Seele, hinter dem benebelten Kap Meganom“, die Zeilen von Mandelstam reißen sich bei mir ungewollt als Antwort auf das Geständnis von Vater Erwin los und er reagiert fröhlich: „Danach strebt meine Seele…“

Es ist mir bekannt, dass Vater Erwin Russland, Ukraine und Weißrussland nicht als Tourist besucht, nicht nur wegen seiner Freunde, seiner Bekannten und Verwandten seiner Gemeindemitglieder (davon hat er viele, sie kommen zu ihm aus ganz Deutschland), jeder bringt humanitäre Hilfe mit: Anziehsachen, Medikamente, Geld.

 

Sein Lieferwagen ist bei allen polnisch-weißrussischen, polnisch-ukrainischen Zöllen bekannt, er kriegt immer grünes Licht. Ja, es kam auch mal zu Überfällen auf polnischen Straßen. Vater Erwin gehört nicht zu den Schüchternen, hat den Wagen gerammt und schmiss ihn in den Straßengraben und ist somit der Verfolgung entwichen. Einmal wurde er jedoch an einer Tankstelle „glattgeputzt“, es wurden seine Taschen mit allem Dokumenten und Geld gestohlen. Wenigstens durfte er nach Deutschland telefonieren und um Hilfe bitten. Es gab schon einiges…

Auch seinen Bruder hat er in die Wohltätigkeit mit einbezogen, der ein katholischer Gefängnispfarrer ist. Jetzt fliegt er jedes Jahr nach Twer und hilft dort den Gefangenen. „Ich habe noch zwei weitere Geistliche mal mitgenommen und auch sie haben angefangen Russland zu lieben und helfen mir Hilfe zu bekommen“.

Meine Bekannte Katinka Dietrich von Wering, die im Kinowesen promoviert hat, die das Goetheinstitut in Moskau gegründet und ihn zusammen mit ihrem Mann mehrere Jahre geleitet hat, brachte ein Buch mit Briefen heraus, die sie aus Russland nach Deutschland an ihre alte Mutter geschrieben hat. Sie hat dieses Buch „Aus Russland mit Liebe“ genannt. Die Mission der Menschen, die so sind wie Vater Erwin kann man als „Nach Russland mit Liebe“ nennen. Wie wichtig ist es doch, dass in der Geschichte der komplizierten deutsch-russischen Verhältnisse, es auch so eine Seite gibt.

 

In der Zeit seiner regelmäßigen Reisen in die Ukraine mit der humanitären Hilfe, fand Vater Erwin in Sumy die Eltern von Boris Nikolajevitch. Die Alten Dankovs hausten in einer Gemeinschaftswohung, gehetzt von den Behörden und dem Nachbarn, der ein Alkoholiker war, als Eltern eines Verräters und des Nicht-Zurückgekehrten. Sie waren glücklich zu erfahren, dass ihr Sohn lebt und erfolgreich ist, doch in dem Brief, den Vater Erwin mitgebracht hat, hat sie ihn angefleht nicht zurückzukehren, zu groß war die Angst, die in ihr saß und nicht losließ.

Der Sohn ist jedoch nicht nur in weiter Ferne verschollen, sondern hat auch eine erfolgreiche Karriere gemacht. Er wurde zum Fachmann in seiner Sache, er wurde zum Koordinator der wichtigen Abteilungen seiner Firma ernannt: der mechanischen, der Kesselabteilung, der elektro- und elektronischen Abteilung, baute Fabriken, Kraftwerke, patentierte über 70 Erfindungen, trat mehrmals mit Vorträgen auf internationalen Konferenzen und Symposien auf, die die Fachmänner aus Russland besucht haben und leitete letztendlich die Abteilung der Patente einer bedeutenden Firma. Dankov hatte Angst in die Heimat zurückzukehren, ist 1983 jedoch nach Sumy gefahren und traf nach 40 Jahren Trennung seine Eltern. Heute sind 30 Jahre seitdem vergangen, die Alten haben sich auf den Friedhöfen beruhigt, aber er kann immer noch nicht ohne Tränen über das Treffen reden.

 

Noch bis heute lebt Dankov in dem Haus, in das er als Mieter 1956 einzog, seine Frau Ilsa kam bei einem Autounfall im Jahr 1990 ums Leben. Sie waren auf dem Weg in die Oper, ein leidenschaftlicher Fahranfänger, der gegen alle Regeln verstoßen hatte, prallte in ihr Auto. Ilsa starb am Tatort, er wurde noch lange von den Chirurgen „zusammengepuzzelt“. Vater Erwin war auch hier an Ort und Stelle. Er hat auch die Ingenieurin Valentina Petrichenko, die Namensvetterin seiner Mutter, in das Haus gebracht. Mit ihrem Erscheinen kehrte das Leben nach und nach zu Boris Nikolajevitch zurück und im Jahr 1995, nachdem Massen an bürokratischen Hindernissen bewältigt wurden, haben sie geheiratet.

Valentina half Boris Nikolajevitch sich der Heimat zu nähern und für sich die Heimstätte aufzudecken. Fast jedes Jahr fahren sie in den Osten. Sumy-Kiew-Charkow- das ist die gewöhnliche Route. Im Jahr 2004 haben sie Sankt Petersburg besucht, zwei Jahre vorher Nowosibirsk, wo zahlreiche Verwandten leben.

Als er sechzehn war, freute er sich, Moskau zu sehen, man hat ihn ja mit der Reise für die ausgezeichneten Noten belohnt, aber… dann kam der Krieg. Er sah die Hauptstadt erst 2009. Das war das Geschenk von Valentina zu seinem Jubiläum. Vor Kurzem feierte er mit Vater Erwin ihr 85-Jähriges, sie sind ja Altersgenossen. Ich habe mir mit großem Interesse die Wandzeitung und die Fotokollagen angeschaut, die Momente des langen und nicht einfachen Lebens zeigen. Auf vielen Fotos sind sie zusammen zu sehen – Boris Dankov und Vater Erwin. Sehr eng haben sich die Schicksale und Wege des russischen Menschen und des Deutschen verflochten, sie sind nicht mehr auseinander zu bringen. Der Krieg hatte auch solche Wendungen…

 

 

 

Greta Jonkins (Köln)

 

Professor, Doktor der Philologie,

Mitglied des P.E.N. Klubs

Aus dem Russischen von Y. Marmer



[1] Bulat Schalwowitsch Okudschawa (*9. Mai 1924 in Moskau; † 12. Juni 1997 in Paris) war ein russischer Dichter und Chansonnier. Der oppositionelle Künstler und Mitbegründer des russischen Autorenliedes galt als der Georges Brassens der Sowjetunion.

[2] eine Stadt im Zentrum der Ukraine in der Oblast Tscherkassy

[3] Ein ukrainisches Wort für „Kopftuch“

русская православная церковь заграницей иконы божией матери курская коренная в ганновере

Über Greta Jonkins (Köln)

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