Integrationszentrum Mi&V e.V. – Mitarbeit und Verständigung

Unser Garbsen

Also, jetzt erfülle ich das im Vorwort zu der Rubrik gegebene Versprechen und schlage ein kurzes Kennenlernen von Garbsen vor. Für die, die diese Stadt gar nicht kennen oder denken, dass sie sie gut kennen.

„Unser“ ist er, vor allem deswegen, weil wir hier schon seit mehr als zehn Jahren leben. Nicht die schlechtesten, kann ich versichern. Und denen, die sagen, dass die Beschreibung der Stadt, in der man lebt, nicht zum Genre des „Reisetagebuchs“ passt, schlage ich erst vor diesen Artikel zu Ende zu lesen. Mit besonderer Beachtung der Fotos. Genau dafür musste ich einen Kilometer zu Fuß gehen und einen noch längeren Weg mit dem Fahrrad machen. Was ich aber gar nicht bereue.

Unser Leben hier fing… etwas angespannt an.

 

Der erste Eindruck

Eigentlich war die einzige Gemeinsamkeit zwischen der Stadt in der wir geboren waren und nicht nur ein Jahrzehnt gelebt hatten, und die, in der wir in Deutschland leben sollten, nur in der kompletten Übereinstimmung des ersten Buchstabens. Sowohl auf Russisch, als auch auf Deutsch: Gomel и Garbsen.

In allen anderen Hinsichten gab es nur Unterschiede. Die zweitgrößte, mit 500 Tausend Einwohnern, Stadt in Weißrussland, und im Vergleich der fast zehn Mal kleinere Stadtteil von Hannover. Meine Frau sagte, wie verurteilt: „Wie soll ich in diesem Dorf leben?“

Die Wohnviertel sind ganz anders gebaut, die Geschäfte sind weit weg, die öffentlichen Verkehrsmittel sind sonst wo. Und die fahren auch komisch.

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Ja, einige der obigen Beschreibungen sollte man in Anführungsstriche nehmen. Heute… Aber damals waren alle Gedanken und Emotionen so. Multipliziert mit der Unbequemlichkeit der ersten Monate am neuen Ort, einer Masse von Briefen auf unverständlicher Sprache und der Notwendigkeit jeden Tag ins Stadtzentrum von Hannover zum Sprachkurs zu fahren.

 

Ja, und die Schule wollte unseren Sohn auch nicht annehmen. Eigentlich richtig: der junge Mann konnte kein Wort Deutsch. Wer konnte damals ahnen, dass er sie nach zwei Jahren erfolgreich beendet und aufs Gymnasium wechselt… Und noch nach drei Jahren, nicht mit der schlechtesten Abiturnote, an der Hannover Universität angenommen wird.

Aber das gehört nicht mehr zu den ersten Eindrücken.

Wie es war

Und nach einigen Monaten hat sich unsere ganze Familie in die Stadt verliebt. Und zwar so heftig, dass wir bis heute nichts von Umzug hören wollen. Außerdem, hat der Autor dieser Zeilen schon bald angefangen auf die Frage was Garbsen ist, zu antworten: „Garbsen ist eine Stadt, an der Grenze welcher sich Hannover befindet“.

 

Hat sich herausgestellt, dass es viele Geschäfte in der Nähe gibt. Viel mehr, als in allen Vierteln von Hannover, wenn man sie einzeln betrachtet. Und man kann die alle ziemlich gut zu Fuß erreichen. Zum Spazieren, so zu sagen. Einige Seen, der Mittellandkanal, Parks, Wälder, Täler. Kleine Tiere in den Büschen direkt vor dem Haus abends: Igel, Frettchen, Maulwürfe. Manchmal, morgens, laufen Hasen vorbei. Und die Wassertiere kann man gar nicht zählen. Mit einem Wort, ruhig, gemütlich, komfortabel und praktisch in der freien Natur.

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Aber die größte Erschütterung haben wir erlebt, als die Stadt Anfang Dezember in den Weihnachtslichtern aufgeleuchtet hat: in den Fenstern, auf den Balkons, auf den Bäumen und in den Büschen, auf den Dächern der Häuser und Garagen. Über Geschäfte und Einkaufszentren braucht man gar nichts sagen. Dort wird dienstverpflichtend geschmückt.

Also mussten wir auf das ein oder andere verzichten und etwas Analoges kaufen gehen. Und nicht deswegen, weil wir uns nicht von den Einheimischen unterscheiden wollten (für schnelle Integration, wie man damals sagte). Aber für uns selbst war das angenehm. Vor allem, wenn man die frühe Dämmerung und die komplette „Grauheit“ überall bedenkt.

Graue Straßen, graue Häuser (wie man auf einem der Fotos sieht), schwere Regenwolken… Und vor diesem Hintergrund – die bunten Lichter, Sternchen, verschiedene Weihnachtsdekoration fast in jedem Fenster. Wir gingen jeden Tag spazieren und bewunderten das Ganze.

So wie es ist

In den letzten Jahren hab ich mich praktisch von der „Grauheit“ befreit. In vielen Vierteln wurden neue Straßen verlegt, die Häuser wurden mit Isolationsmaterial verkleidet und die Fassaden bunt gefärbt. Es sind neue Spielplätze für Kinder gebaut worden, ein Fitness-Park. Der Penny Markt ist in ein neues modernes Gebäude umgezogen. Um die Häuser herum wurden Blumenbeete mit verschiedenen Rosenarten angelegt. In einem der Seen lebt ein Schwanenpaar und erzieht nicht zum ersten Mal im Frühjahr ihre jungen Küken.

Jedoch, leider, ist die Weltwirtschaftskrise auch nicht unbemerkt an Garbsen vorbeigegangen. Bemerkbar ist einer der Einkaufszentren leer geworden, einige Geschäfte haben auch geschlossen.

Und unser Haus, einst zur Hälfte von den Einheimischen bewohnt, ist jetzt ein reines Immigrantenhaus. Und nicht unseres allein. Klar, das ist ein natürlicher Prozess. Aber, wenn man so lebt, getrennt von den Vertretern der Titelnation, sozusagen, ist es sehr schwer ihre Traditionen und Bräuche zu übernehmen. Die besten, selbstverständlich. Die, die es wollen.

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Und in den letzen paar Jahren brennen in Garbsen ab und zu Müllcontainer, auf den Haltestellen und in den Telefonzellen geht das Glas kaputt. Irgendjemanden lässt wohl nicht der zweifelhafte Ruf der Pariser Vorstädte.

Normal ist auch Fußballspielen direkt unter den Fenstern der Wohnhäuser. Dabei umlaufen die Jugendlichen sehr geschickt den Pfosten mit dem Schild, der genau das verbietet. Wobei, wenn die jungen Fußballer anfangs sich auf mehreren Sprachen miteinander unterhielten, jetzt, nach dem aufklärenden Gespräch (mit wem auch immer?!), hört man Russisch und Deutsch gar nicht mehr.

Und deren Träger widmen sich schon seit drei Jahren ihrem Lieblingsspiel auf dem dafür vorgesehenen Platz, weit entfernt vom Wohnsektor. Und für sie ist es bequem, und die Blumenbeete leiden nicht.

Und Hunde in Garbsen, so scheint es, gibt es mehr als… Kinder. Ja, sie gehen alle mit ihren Herrchen und Frauchen spazieren, und nur einige sind so schlecht erzogen, dass sie jeden Passanten angreifen wollen. Oder zumindest, anbellen. Während die Anzahl der Hundebesitzer, die die Produkte ihrer Haustiere vom Rasen wegräumen, von Jahr zu Jahr sinkt.

Wollen Sie sagen, dass so ein trauriges Bild entsteht? Nein, es ist einfach die Realität. Und, wahrscheinlich, hängt es von jedem einzelnen von uns ab, sonst werden solche Realien immer mehr das Leben vergiften.

Wie wird es sein?

Garbsen 12Diese Frage kann wohl heute keiner beantworten. Aber denken und etwas tun muss man. Denn mit der Zeit werden sich sonst die einzelnen Viertel von Garbsen wirklich in ein Immigrantenghetto verwandeln, über welche man gerne von oben herab spricht und das wird für keinen gut enden.   Garbsen 14

Und die heute auf den Straßen rumliegenden Einkaufswagen aus verschiedenen Supermärkten verleihen der Stadt nicht mehr Schönheit und Gemütlichkeit. Übrigens, es entsteht der Eindruck, dass das nur hier passiert: weder in Hannover, noch in Neustadt oder Wunstorf hat der Autor dieser Zeilen ein ähnliches Bild beobachten können. Also hängt wohl vieles von der örtlichen Regierung ab.

Garbsen 13Und die Bundesregierung muss auch nicht mit Bedauern feststellen, dass die Integrationspolitik nicht funktioniert. Weil es töricht ist, von allen Einwanderern eine totale und schnelle Assimilierung zu verlangen (und erwarten!). Und der heranwachsenden Generation die Liebe und den Respekt für die Stadt, in der sie leben, anzueignen, mit allen möglichen Mitteln. Damit nicht einige Jungs und Mädels herumlaufen, mit ihrem Äußeren und ihrem Verhalten zeigen, dass sie einfach mit ihrer Gegenwart die Stadt und das Land, in dem sie leben, und in welchem sie geboren und aufgewachsen sind, beglücken. Denn ihre Eltern sind umgesiedelt (bewusst oder nicht – das ist hier nicht die Frage) in der Suche nach besserem Leben. Wie für sich, als auch – in höherem Maße – für ihre Kinder und Enkel. Warum soll man es dann mit seinen eigenen Händen schlechter machen?Garbsen 10

Denn es ist nicht wichtig in welcher Stadt wir leben: Garbsen, Hannover, München oder Düsseldorf. Viel wichtiger ist, dass wir zu einem unersetzlichen Teil davon werden. Und unsere Umwelt mit Liebe, Respekt und Vorsicht behandeln. Das verdient jeder Ort auf der Erde. Und unser Garbsen steht in diesem Sinne keinem in etwas nach.

 

 

 

 

 

 

 

Boris Kunin. Foto des Autors

Aus dem Russischen von Yevgeniya Marmer

русская православная церковь заграницей иконы божией матери курская коренная в ганновере

Über Boris Kunin

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