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Integrationszentrum Mi&V e.V. – Mitarbeit und Verständigung

Moskau 2012

Wenn man die Heimat verlässt, fehlen vor allem geliebte Menschen, die nun so weit entfernt sind. Als ich nach Deutschland kam, blieb meine Mutter in Russland. Ich entschied mich sie auf jeden Fall einmal im Jahr zu sehen. In den ersten Jahren fuhr ich nach Petersburg, wo sie wohnte, dann besuchte sie mich in Deutschland. Später trafen wir uns an anderen Orten. Für das Jahr 2012 verabredeten wir uns in Moskau.

 

 

Es liegt nicht so weit von Petersburg entfernt und dort- in der Hauptstadt Russlands- könnten wir viel anschauen. Moskau interessierte mich. Ich hatte so viel über die großen Veränderungen gehört. „Im Allgemeinen ist in Russland vieles beim Altem geblieben, aber in Moskau…“, sagten viele, die ich kannte. Außerdem fast alle der reichen Russen, die ich bei Urlaubsreisen getroffen hatte, kamen aus der Hauptstadt. Sie waren nett, klug und erfolgreich. Um mich nicht um so vieles kümmern zu müssen, buchte ich eine Pauschalreise für uns alle: meine Mutter wollte zusammen mit ihrem Mann und ihrer Freundin kommen.

   Endlich kam der Tag der Abreise. Mein Flugzeug startete kurz vor 12 Uhr nachts und nach drei Stunden betrat mein Fuß Moskauer Boden. Es war 5 Uhr morgens Moskauer Zeit, als ich die Flughalle verließ. Sofort wurde ich von Taxifahrern umringt. Alle nannten den gleichen Preis- zirka 45 Euro bis zur nächsten Metrostation. Aber als erfahrene Reisende ging ich zuerst zum Busbahnhof. Er war völlig leer. Vor 6:30 Uhr fuhr kein Bus. Das zwang mich doch ein Taxi zu nehmen, da unsere Reisegruppe sich um 6:30 auf der anderen Seite Moskaus treffen sollte. Zehn Minuten lang verhandelte ich mit den Taxifahrern, um den Preis zu drücken. Sie wurden von Minute zu Minute respektvoller.

Schließlich bezahlte ich rund 25 Euro und stieg in ein Taxi. Nach 15 Minuten Fahrt trafen wir bei der ersten gerade geöffneten Metrostation ein.

In der großen Menge schlecht gekleideter, müde und grau aussehender Menschen fühlte ich mich in die 50er Jahre versetzt. Meine Vorstellung über „reiche Russen“ fiel zusammen. Auf den Bänken saßen überwiegend ältere unglücklich wirkende Menschen, die mich an die „dritte Welt“ erinnerte. Nach 40 Minuten Fahrt war ich endlich da. Hier befanden sich gleich drei Bahnhöfe. Ich musste zum Leningrader Bahnhof gehen, an unseren Treffpunkt. Zur dieser frühen Stunde war hier schon eine große Menge Menschen. Mit Mühe drängte ich mich durch eilige, mit Koffern beladenen Passanten und viele am Boden liegenden Penner. Gleichzeitig sah ich die wunderschönen Fassaden der Häuser und einen Teil der Innenstadt. Sie strahlten Macht und Größe aus.

Ich kam, Gott sei dank, rechtzeitig an. In der Bahnhofshalle sah ich sofort meine Mutter, ihren Mann und noch ein paar Mitglieder unserer Gruppe. Erstaunlicherweise war dabei eine blinde Frau. Bald erschien unsere Reiseleiterin- eine gewandte Dame Mitte 50. Wir gingen nach draußen und stiegen in einen Minibus. Kurz danach fing es an zu regnen.

   Durch eine verschmierte Fensterscheibe schauend dachte ich über die Ohnmacht der Menschen, gegenüber ihrem Schicksal und der Natur gegenüber, nach. Vor einem Monat herrschte hier große Hitze, viele Brände und Smog. Wir mussten die Reise verschieben, die Moskauer waren wie eingesperrt. Jetzt war es der endlose Regen, der uns hinderte aus zu steigen und die Stadt anzuschauen.Unbeirrt vom Wetter, spulte die Reiseleiterin ihr Programm ab. Sie erzählte ohne Pause über Zaren und Architekten, Adelige und heimliche Geliebte, für die die schönen Paläste eingerichtet worden waren. Es regnete stärker und stärker, aber die Gruppenteilnehmer stiegen aus, um Fotos zu machen. Schließlich hat man nicht so oft die Möglichkeit, Moskau zu besichtigen. Gegen Mittag war ich richtig müde, ich wollte essen und schlafen. Aber im Programm stand noch eine Besichtigung eines Schlosses in einem Vorort Moskaus.

Und niemand von der Gruppe wollte auf diese Möglichkeit verzichten. So fuhren wir nach Zarizino. Durch endlose Industriegebiete, über Brücken und Überführungen. Und endlich wurden wir belohnt: der Regen hörte auf. Vor uns lag ein wunderschöner Park mit einer malerischen Brücke, einer Kirche, kleinen und großen Palästen. Wie im Märchen.

Und auch die Leute waren nicht alltäglich. Bräute in weißen Roben, Bräutigame in perfekt geschnittenen Anzügen mit großem Gefolge und Fotografen. Ein Paar nach dem anderen. Ich schaute fasziniert, ich hatte nie so viele Bräute und Bräutigame auf einmal gesehen. Bei 12 Grad, ziemlich starkem Wind, großen Pfützen, sah ich, eingemummelt in warme Kleidung, wie die jungen Bräute in schicken, dünnen, weit ausgeschnittenen Kleidern durch den Park promenierten. So wichtig ist es für Russinnen verheiratet zu sein, dachte ich, dass sie für diesen schönsten Tag ihres Lebens bereit sind, jedes Opfer zu bringen.

Abends wurden wir endlich in unser Hotel gebracht. Ich war so todmüde, dass ich, sobald ich in meinem Zimmer war, mich hinlegte und sofort einschlief.

   Am nächsten Morgen sollten wir mit der Metro zum Roten Platz fahren. Dort erwartete uns unsere Reiseleiterin. Ich hatte mich entschieden nur am Anfang dabei zu bleiben, um dann auf eigene Faust die Stadt zu erkunden. Wie am gestrigen Tag standen die Leute in der Metro dicht gedrängt, wie Ölsardinen in einer Dose. Als die Bahn einfuhr, stieg der Mann meiner Mutter ein, die Türen schlossen sich, wir, meine Mutter, ihre Freundin und ich, standen draußen. Wir fuhren mit der folgenden Bahn. Meine Mutter geriet in Panik. „Er weiß nicht, wo wir umsteigen müssen“, sagte sie. Sie versuchte ihren Mann per Handy zu erreichen, aber es gab keine Verbindung. „Er ist doch ein Erwachsener, noch dazu ein Mann. Er sollte selbst den Plan lesen können“, versuchte ich meiner Mutter zu beruhigen, aber es half wenig. Während der fünf Haltestellen bis zum Umsteigen waren alle nervös. Glücklicherweise wartete Boris bereits auf uns.

Wir kamen ganz pünktlich am Treffpunkt an. Es war ein besonderer Tag – Tag der Stadt. Verschiedene Feierlichkeiten waren geplant. Praktisch bedeutete dies, dass viele Polizisten auf den Straßen Wache hielten und außerdem ein beschränkter Zugang zum Roten Platz war. Nach einer Stunde Führung verließ ich die Gruppe und ging meines Weges. Ich schlenderte die Hauptstraße Twerskaja entlang. Wegen des Feiertages war hier kein Verkehr, alle 20 Meter standen ein Polizist oder eine Polizistin, um für Ordnung zu sorgen . Alle schienen genauso zu frieren wie ich und wirkten in dieser Straße mit den pompösen Gebäuden verloren und einsam. Auf der Suche nach Sehenswürdigkeiten kam ich an McDonalds vorbei. Beim Betrachten der luxuriösen Geschäfte, fragte ich mich, welche Menschen hier wohl einkauften – nur reiche Touristen? Nach circa 20 Minuten fand ich eine gut ausgestattete Buchhandlung. Ich blätterte mehrere interessante Bücher durch, aber die Preise schreckten mich ab. Trotzdem verließ ich den Laden mit einer Tasche voller Bücher. Draußen war es kalt und ungemütlich, und ich hatte keine Lust mit meiner schweren Tasche weiter zu schlendern. So fuhr ich zurück zum Hotel. Die lange Fahrt (stehend) und riesige Menge von Menschen überall machten mich richtig müde( Arme Moskauer, dachte ich, sie leben ständig in diesen Verhältnissen). Am liebsten wäre ich ins Bett gegangen, aber es war zu früh und ich war dazu zu hungrig. Im Foyer des Hotels gab es ein paar Cafés. Ich bestellte sofort einen schwarzen Tee und Salat. Im Westen hat man fast keine Ahnung von den leckeren russischen Salaten. Sie sind beliebt, geschmackvoll und vielfältig. Ein Salat (oft mit Hähnchen oder Fisch) sättigt angenehm. Wenn ich in Russland bin, esse ich ausschließlich die frischen Salate.

Nach einem kurzen Nickerchen wollte ich die Umgebung außerhalb des Hotels erkunden. Ich sah circa fünf ähnlich aussehende Hotels, deren beste Zeiten nicht mehr zu sehen waren. Ich fand auch viele kleine Geschäfte und Cafés, in denen die Preise viel niedriger, als im Hotel, waren. Ich kaufte etwas für Abendessen ein und entschied, morgen wieder zu kommen.

„Wann öffnen sie?“ fragte ich eine Verkäuferin, eine müde wirkende Frau mittleren Alters.

„Wir haben tags und nachts geöffnet,“ seufzte sie. Ich stellte mir vor, wie sie, verschlafen,

irgendeinen Kerl bedient, den mal Lust auf Zigaretten oder Vodka hat. „ Wieder eine Verhöhnung über Armen und Schwachen“.

In der Nähe des Hotels gab es noch einen großen Souvenirmarkt. Dort konnte man alle möglichen Dinge- von schon gemalten Holzbrettern bis zu Kalendern russischer Malerei- kaufen. Die Händler waren nett und gewandt. Ich kaufte viele Kleinigkeiten, die ich meinen Bekannten schenken wollte. Für mich nahm ich einen Kalender. Später, als das Neues Jahr begann, versuchte ich den zu aufhängen. Vergeblich. Er fiel wieder und wieder runter, weil ein vernünftige Aufhänger fehlte. Da machte ich extra ein Loch, dass aber nichts brachte. „So ist Russland, dachte ich verbittert, da hast du etwas Schönes, aber wie unsicher ist alles, wie schnell geht es kaputt.“

   Als ich im Hotel zurückkehrte, war es schon dunkel, aber meine Mutter war noch nicht da. Sie kam ins Hotel erst gegen 20:30 und erzählte begeistert über die Führung, die fast den ganzen Tag dauerte. Ich war froh, dass sie glücklich war und dass ich meine Zeit auf meine Art verbringen konnte.

Am dritten Tag wollte ich längere Zeit mit meiner Mutter zusammen sein. Schließlich war es der letzte Tag. Im Programm stand ein Spaziergang durch Arbat, eine berühmte Moskauer Straße, und der Besuch der Tretjakow Gallery.

Es war ein ziemlich kalter und windiger Tag. Auf dem Arbat waren viele Menschen unterwegs. Wieder musste ich viel Geduld mitbringen, da die Führung mehr als zwei Stunden dauerte. Anschließend ging die ganze Gruppe ins Café, indem es leckeres und preiswertes Essen gab. Auch viele Einheimische nutzten das Angebot und, wie oft in Russland standen wir in einer langen Schlange, jedoch war es angenehm im Gegensatz zu draußen. Nach dem Essen fuhren wir zur Galerie, ich wollte auf gar keinen Fall noch eine weitere Führung über mich ergehen lassen, sondern alleine Bilder des 20 Jahrhunderts betrachten. Zu meiner Überraschung hingen in der Galerie deutlich weniger Bilder als ich erwartete. Auf meine Frage, wo denn die ganzen Bilder seien, erfuhr ich, dass sie in der Vorratskammer lägen. Dies war sehr enttäuschend und unverständlich für mich.

Zum vorher abgesprochenen Zeitpunkt war ich wieder am Eingang. Niemand aus unserer Gruppe war da. Nach einer halben Stunde ging ich in eine nah entlegene Buchhandlung. Beim Durchblättern der Bücher überfiel mich der schreckliche Gedanke, meine Mutter nicht wiedersehen zu können. Auf alle Fälle sollte ich nochmal zum Museum zurückgehen. Dort traf ich die völlig vergnügte Gruppe. Beim letzten Gespräch mit meiner Mutter fühlten wir uns zufrieden, aber auch eine gewisse Wehmut schwang mit.

   Am nächsten Tag war ich wieder in Deutschland in meinem winzigen Städtchen mit viel Natur,        wenigen Passanten und ein leichtes, verständliches und gewöhnliches Leben.

 

Foto v. V.S.

 

 

русская православная церковь заграницей иконы божией матери курская коренная в ганновере

Über Lina Zasepskaya

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