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Integrationszentrum Mi&V e.V. – Mitarbeit und Verständigung

Hamlets Träume

(Nach Motiven der Tragödie „Hamlet, Prinz von Dänemark“ von William Shakespeare)

Die Bühne ist ein Dunkelkabinett; in der Dunkelheit ist nur Hamlet angeleuchtet. Manchmal sieht man sein Gesicht, dann wieder den ganzen Körper. Die Stimmen, die Hamlet hört, „leben“ in farbigen „Lichtkokons“; Jede Stimme besitzt ihre eigene Farbe; sie tauchen auf und verschwinden wieder in der Dunkelheit. Die Stimmen kommunizieren nicht mit Hamlet, sie existieren für sich. Hamlet spricht aber, auch wenn er auf die Stimmen reagiert immer nur zum Publikum.

Erster Traum. „Sein“

Hamlet:

(In völliger Dunkelheit)

Ist es Ihnen auch schon mal so vorgekommen, dass Sie immer wieder das ein und dasselbe träumen?

(sein Gesicht zeichnet sich in der Dunkelheit ab).

 

Ich meine so einen aufdringlichen, zähen, lästigen Alptraum, wo man schon im Voraus weiß, was weiter geschieht, und Sie können gar nichts tun.

Und der Traum beginnt immer an der gleichen Stelle.

Erst kommt dieses Geräusch –, hören Sie? Da ist es wieder.

Und dann das rote Leuchten.

Da, in der Ecke, sehen Sie’s?

Und gleich beginnt er zu sprechen. Da!

 

1. Stimme (Der Geist):

Horch, horch! O horch!

Ich bin deines Vaters Geist.

 

Hamlet:

Ich habe dich erkannt. Und ich weiß auch schon, was du mir sagen willst. Dich hat dein eigener Bruder getötet, der jetzige König von Dänemark. Und er ist auch der Gatte meiner Mutter geworden. Anstatt deiner Person.

 

1. Stimme (der Geist):

Räche meinen schnöden, unerhörten Mord.

 

Hamlet:

Ja, so beginnt es immer. Wie schön und ruhig war es doch früher in Wittenberg! Freunde, Bücher, Trinkgelagen!

Ich kam nach Hause zu Vaters Beerdigung, und siehe da – es gibt auch schon eine Hochzeit, die meiner Mutter. Als ob das eine Unglück nicht gereicht hätte.

Und gleich wird er wieder sprechen!

(Zeigt auf die Lichtblase der ersten Stimme)

Da!

 

1. Stimme (der Geist):

Ade! Ade! Gedenke mein. (Verschwindet).

 

Hamlet:

Wie kann man so etwas vergessen?

(Wird nachdenklich)

Aber, wenn man bedenkt, dann ist alles nicht so einfach, wie es scheint.

Hier in meinem Traum, oder sagen wir in meinem Kopf, beginnt sich dieser schicksalhafte Satz zu formulieren, den doch jeder kennt: „Sein oder Nichtsein?

Alle ahnen schon, alle wissen und verstehen, wo das Problem liegt. Soll ich mich an meinem Oheim, dem König, rächen und untergehen, mit anderen Worten – Nichtsein“? Oder keine Rache üben, was Leben bedeutet, also – „Sein“. Es scheint doch, als ob alles klar wäre, denn Leben war schon immer besser als Sterben gewesen. Zumal wir nicht wissen können, solange wir noch leben, was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, wenn wir das Irdische gesegnet und diese Welt verlassen haben. Vielleicht unerträgliche, grauenvolle.

So könnte die Entscheidung doch sehr leicht fallen, nämlich den Geist vergessen und an etwas Anderes, Schönes denken. Zum Beispiel an Ophelia.

 

2. Stimme (Ophelia):

(aus einer bläulich schimmernder Lichtblase, sie singt)

                            Wie erkenne ich den Freund

                            Von den Andren nun?

                            An dem Vagabundenhut

                            Und den Wanderschuhn.

                           

                            Er muss lange schon im Grab

                            Unterm Rasen sein.

                            Neben ihm sein Wanderstab,

                            Ihm zu Fuß ein Stein.

 

Hamlet:

Was für ein Stein? Wovon redest du? Wo siehst du einen Stein?

Sag mir lieber, wie das passieren konnte, dass du zum Wasser gegangen bist? Du warst doch sonst immer so wasserscheu.

 

2. Stimme (Ofelia, singt):

                          Bei unsrer Frau in Sankt Kathrin!

                            O pfui! Was soll das sein?

                            Ein junger Mann tut’s wenn er kann,

                            Beim Himmel, ´s ist nicht fein.

                            Sie sprach: eh Ihr gescherzt mit mir,

                            Gelobt Ihr mich zu frein.

               Er antwortet:

                            Ich bräch’s auch nicht, beim Sonnenlicht!

                            Wenn du nicht kommen herein.

        

Hamlet:

Das kommt von Polonius. Das hat dir dein lieber Vater eingetrichtert. Seine Erziehung ist das. Und du bist natürlich seine gehorsame Tochter.

 

3. Stimme (Polonius):

Ja, Schlingen für Schnepfen. Weiß ich doch,

Wenn das Blut kocht, wie das Gemüt der Zunge

Freigebig Schwüre leiht.          

 

Hamlet:

Genau. So ist es, Polonius! Ich bedaure es überhaupt nicht, dass ich dich getötet habe. Ich dachte natürlich, dass sich dort, in Mutters Schlafzimmer, hinter dem Vorhang der König versteckt hatte, und stach zu, um ihn zu durchbohren. Aber dass warst du.

(Wird nachdenklich).

Na ja, das Lauschen führte noch nie zu was Gutem.

 

3. Stimme (Polonius):

Mein gnädigster Herr, ich will ehrerbietigst

meinen Abschied von Euch nehmen.

 

Hamlet:

Nein, wartet! Hier stimmt was nicht. Etwas fällt aus dem Konzept.

 

3. Stimme (Polonius):

Lebt wohl, mein Prinz.

(Verschwindet).  

 

Hamlet:

Verstehen Sie das? Ich habe mich für das „Sein“ entschieden. Ich wollte nicht, Rache üben. Warum habe ich denn dann den Polonius erstochen im Glauben, dass es der König war? Also wollte ich doch den König töten. Irgendwie ist das unlogisch. Ich entscheide mich für das Eine, tue aber das Andere. Das ist doch nicht nach der Art von Hamlet. Das liegt überhaupt nicht in meiner Natur.

 

Aber was, wenn das Problem ganz wo anders liegt? Nicht einfach „Sein oder Nichtsein?“ sondern „Sein wie die anderen“, oder „Nichtsein“? So muss man hier doch die Frage stellen.

 

Und wenn ich mich entschieden habe für das „Sein“, dann doch wirklich „Sein wie die anderen“. Und alle anderen würden ja auch so handeln, wie ich es getan habe, das heißt: sie würden es dem gemeinen Schuft heimzahlen. Stimmt doch, oder? Und es ist ja nicht einfach irgendein Beleidiger, es ist der niederträchtige Mörder meines Vaters, der Schänder meiner Mutter!

Das ist nur selbstverständlich und natürlich.

(Atmet erleichtert auf).

Gut so, das Konzept stimmt wieder, es kann weiter gehen.    

 

„Zur Grausamkeit zwingt, leider, bloße Liebe mich.

Schlimm fängt es an und Schlimmeres nahet sich.“

 

Das sagte ich zu meiner Mutter, als ich den toten Polonius aus ihrem Schlafzimmer herausschleppte. Doch da gibt es ein Wort, das nicht so ganz stimmt. Ich habe es als Ausschmückung hinzugefügt. Das kommt noch aus den Universitätszeiten. Das Wort „leider“. Weswegen denn leider? Sie war doch überhaupt nicht bedauernswert. Wie eilig hatte sie es, wieder zu heiraten! Noch bevor die Schuhe verbraucht sind, in denen sie der Leiche meines Vaters folgte! Oh, dieser Spruch ist gut, die Schuhe nicht verbraucht! Und er stimmt!

 

4. Stimme (der König):

                           …mir bleibt ja stets noch alles,

was mich zum Mord getrieben hat: meine Krone,

Mein eigner Ehrgeiz, meine Königin.

Wird da vergeben, wo Missetat besteht?

 

Hamlet:

Da, der König sagt es selbst: Keine Vergebung! Also ist er schuldig. Aber für die endgültige Gewissheit gibt’s dennoch nicht genug Indizien. Nur die Worte des Geistes. Worte, Worte, nichts, als Worte. Und was, wenn das gar nicht mein Vater war? Könnte doch sein?

 

Die Schauspieler sind in Helsingör gerade rechtzeitig eingetroffen.

Ich hatte eine grandiose Idee. Die Schauspieler zeigen vor dem Oheim ein Stück, das den Mord an meinem Vater nachstellt, und ich beobachte ihn heimlich, ob es ihm nahe geht. Ob er sich verrät.

Mittlerweile stelle ich mich als ein Verrückter an, bis meine Zeit gekommen ist. Wer sollte mich denn dabei enttarnen? Die da vielleicht?

(Eine Kopfbewegung in die Richtung der Stimmen 5. und 6., die in einer gemeinsamen Lichtblase auftauchen).

Schulgesellen – Freunde, Verräter – Feinde.

 

Die Stimmen 5. und 6. (Rosenkranz und Güldenstern):

( sprechen gemeinsam)

Er gibt es zu, er fühle sich verstört,

Allein wodurch, will er durchaus nicht sagen.

Hielt sich vielmehr mit schlauem Wahnwitz fern.

 

Hamlet:

Dachtet Ihr, dass ich leichter zu spielen bin als eine Flöte?

 

Na ja! Die Idee mit dem Schauspiel war genial. Der König hat sich verraten, was auch zu beweisen war. Sprang auf, lief hinaus und hinterher die Königin und das ganze Gefolge. Es ist klar, dass der nächste Zug beim König liegt. Er kämpft mit harten Bandagen.

Mich muss er jetzt schleunigst loswerden.

 

4. Stimme (Der König):

Aus Liebe? Nein, sein Hang geht dahin nicht,

Und was er sprach, obwohl ein wenig wüst,

War nicht wie Wahnsinn. Ihm ist was im Gemüt,

Worüber seine Schwermut brütend sitzt;

Und wie ich sorge, wird die Ausgeburt

Gefährlich sein. Um dem zuvorzukommen,

Hab ich’s mit schleuniger Entschließung

Mir abgefasst. Er soll in Eil’ nach England,

Den Rückstand des Tributes einzufordern.

 

Hamlet:

So, so. Den Rückstand des Tributes also. Aber im Begleitbrief eine Anordnung für die Engländer, mich zu töten. Zwei Schulgesellen, die in der Treue noch hinter Nattern stehen, wurden mitgeschickt. Sie hatten den versiegelten Brief. Sie ebneten mit Schmeicheleien mir den Weg zur Falle, die schon aufgestellt war. Wohlan, wohlan. Es wird doch spaßig sein, wenn diese Feuerwerker mit ihrem eignen Pulver auffliegen werden.

 

7. Stimme (Fortinbras):

Sagt dem Dänenkönig, dass Fortinbrass auf sein Gestatten

Für den versprochenen Zug durch sein Gebiet

Geleit begehrt. Die Truppen rücken gegen Polen.

 

 

Hamlet:

Na bitte! Fortinbras ist wild entschlossen, ein unbedeutendes Stückchen Land von Polen abzutrennen. Zweitausend Seelen, und zwanzigtausend Goldstück sind weder für die Norweger noch für die Polen zu schade, um einen Haufen Stroh zu erobern und den Schimmer eines Ruhmes davonzutragen.

Und ich, dessen Vater ermordet und dessen Mutter geschändet wurde, soll zögern und überlegen? O nein, es muss geschehen. Denn ich habe Grund und Willen, Kraft und Mittel, um es zu tun.

 

Nach England fahren? Nein, nein, da kriegt ihr mich nicht hin. Die Schulgesellen, Rosenkranz und Güldenstern können ja ihren Brief dort abliefern, den ich etwas abgeändert habe. „Die Überbringer dieses Schreibens sollen unverzüglich hingerichtet werden“, steht da ganz klar geschrieben. Also, auf Nimmerwiedersehen, meine Herren!

So leicht lasse ich mich nicht wegschicken.

Ich bin noch da.

 

8. Stimme (Totengräber):

Hier sehen Sie, mein Herr, das ist der Schädel Yoriks, des alten Hofnarren. Dreiundzwanzig Jahre lag er schon in der Erde.

 

Hamlet:

Armer Yorik, wo sind nun deine Sprünge, deine Lieder, deine Blitze an Lustigkeit geblieben? Zu was für schnöden Bestimmungen wir doch kommen müssen, wenn das Leben zu ende ist?

Aber für wen wird dieses neue Grab geschaufelt? Hörst du, ich fragte dich was? Für wen ist dieses Grab?

Sag doch was!

(Schweigen)

 

Wie werde ich bloß diesen lästigen, zähen Traum los!?

 

Ja, ich sprang in Ophelias offenes Grab, weil ich so erschüttert war und einfach die Fassung verloren hatte. Ich war ja weg und wusste nicht, dass sie den Verstand verloren hatte und ertrunken war. Aber, freilich, bei der Liebe zu ihrem, von ihr ach so verehrten Vater, hätte man das voraus sehen können. Das ist kein Leichtes: ihr liebster Hamlet tötet ihren verehrten Vater. –

 

Aber den Hamlet, der ich früher mal war, den gibt’s nicht mehr! Er ist geschieden von sich selbst.

 

2. Stimme (Ophelia):

Sein Leichenhemd weiß wie Schnee zu sehn –

Geziert mit Blumensegen,

Das unbetränt zum Grab muss gehn

Von Liebesregen.

 

Hamlet:

Wieso kommst du immer wieder auf das Grab, auf das Totenhemd!? Sieh doch mal! Da gibt’s kein Totenhemd! Dein Bruder Laertes und ich, wir kämpften in deinem Grab, weil er sich angemaßt hatte, dass seine Bruderliebe und Bruderschmerz größer wären, als die meinen! Das konnte ich auf gar keinen Fall zulassen.

 

Schwamm drüber! Aber von diesem Augenblick ging es sehr schnell dem Ende entgegen. Laertes beschuldigte mich, ich hätte den Tod seines Vater und seiner Schwester zu verantworten, und man muss sagen, nicht grundlos. Der König belehrte ihn, wie man mich aus dem Weg schaffen könnte.

 

Im Duell ist das sehr leicht. Das Rapier zu vergiften, ist ganz einfach. Ein kleiner Kratzer und es gibt keine Rettung mehr. Ja, nicht von ungefähr hatte ich eine so schlimme Ahnung. Horatio würde wohl jetzt das Richtige sagen.

 

9. Stimme (Horatio):

Wenn Eurem Gemüt irgendwas widersteht, so gehorcht ihm –. Ich will ihnen sagen, dass Ihr nicht aufgelegt seid.

 

Hamlet:

O nein! Ich trotze allen Vorbedeutungen. Wenn das Schicksal es so will, geschieht es jetzt und nicht später. Komme was da wolle! Das Duell mit Laertes, das Spiel mit dem König.

 

4. Stimme (der König):

Er achtlos, edel, frei von allem Arg,

Wird die Rapiere nicht genau besehen –.

Wenn er zu trinken fordert, soll ein Kelch

Bereitstehn, der, wenn er davon nur nippt,

Noch unsren Anschlag sichert.  

 

Hamlet:

Was weiter kam, ist wohl bekannt. In meinem Traum gibt es ein paar nebulöse Stellen. Im Duell wurde ich mehrmals gestreift, Laertes ebenso und mit der gleichen Klinge, weil wir im Eifer des Gefechts die Rapiere tauschten. Vom Wein nehme ich Abstand, aber die Mutter ergreift den vergifteten Kelch und trinkt. Der König ruft noch: „Gertrud, trink nicht!“ – aber es war zu spät. Was mir übrig bleibt, ist, den König zu erstechen.

Und dann in Horatios Armen langsam zu sterben. Vor mir die Leichen des Königs, der Mutter und Laertes. Dann hör ich noch, wie die Truppen des Fortinbras siegreich heimkehren.

 

7. Stimme (Fortinbras, der junge Prinz aus Norwegen):

Mein Glück umfang ich trauernd;

Ich habe alte Recht’ an dieses Reich,

Die anzusprechen mich mein Vorteil heißt.  

 

Hamlet:

Und weiter? Gar nichts. Nur diese Dunkelheit und Schweigen. Und dieser Alptraum, dieser immer wiederkehrende, ewige Traum –.

Haben Sie manchmal auch solche Träume? Davon, was war und was hätte vermieden werden können –.

Oder wäre doch alles genau so gekommen, wie es gekommen ist –?

 

(Hamlets Gesicht und seine Stimme versinken in der Dunkelheit).

 

Zweiter Traum. „Nichtsein“

 

Hamlet (Im Dunkeln):

Geht es Ihnen manchmal auch so, dass Sie immer wieder denselben Traum haben?

(Sein Gesicht kommt langsam aus der Dunkelheit hervor).

 

Ich meine so einen zähen, schweren Traum, wo man schon im Voraus weiß, was weiter geschehen wird, und Sie können gar nichts tun?

Er beginnt immer aufs Gleiche.

Zuerst ein Geräusch, – hören Sie es? Da ist es wieder. Und dann das rote Leuchten.

Da! In der Ecke, sehen Sie es?

Und jetzt beginnt er zu sprechen.

 

1. Stimme (der Geist)

Horch, horch! O horch!

Ich bin deines Vaters Geist.

 

Hamlet:

Ich habe dich erkannt. Und ich weiß auch schon, was du mir sagen willst. Dich hat dein eigener Bruder getötet, der jetzige König von Dänemark.

Und er ist auch der Gatte meiner Mutter geworden. Anstelle deiner Person.

 

1. Stimme (der Geist):

Räche meinen schnöden, unerhörten Mord.

Doch, wie du immer deine Tat betreibst,

Befleck dein Herz nicht; dein Gemüt ersinne

Nichts gegen deine Mutter; überlass sie

Dem Himmel und den Dornen, die im Busen

Ihr stechend wohnen.

 

(Das Echo wiederholt: dem Himmel und den Dornen! Dem Himmel und den Dornen!)

 

10. Stimme ( die Königin):

(Zärtlich)

Lass deine Mutter nicht ins Leere reden, Hamlet:

Ich bitte, bleib bei uns, geh nicht nach Wittenberg.

 

Hamlet:

Ach, wie schön und ruhig war es doch früher in Wittenberg! Freunde, Bücher, Trinkgelagen! Obwohl, es ist kein so schöner Brauch – unsre Trinkgelagen. Sie haben uns in Ost und West bei den andren Völkern einen schlechten Ruf eingebracht. Man nennt uns Säufer und hängt an unsre Namen so manches schmutzige Beiwort. Im Ausland haben wir uns damit ordentlich blamiert.

 

Ich wurde zu Vaters Beerdigung gerufen, und siehe da – es gibt auch schon eine Hochzeit, die meiner Mutter. Als ob das eine Unglück nicht gereicht hätte. Die Schuhe sind noch nicht verbraucht, in denen sie zur Beerdigung des Vaters ging.

 

Aber es ist alles nicht so einfach, wie es scheint.

(Er wird nachdenklich)

 

Hier in meinem Kopf dreht und wälzt sich dieser schicksalhafte Satz, der allen so bekannt ist: „Sein oder Nichtsein“, und alle wissen schon, alle verstehen, was damit gemeint ist.

Wenn ich mich für die Rache an meinem Oheim entscheide, bedeutet das Sterben. Anders gesagt, „Nichtsein“. Keine Rache – bedeutet nicht Sterben, also „Sein“. Es scheint, als ob es klar wäre, denn Leben ist doch besser als Sterben. Insbesondere, da man nicht weiß, was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, wenn wir das Irdische abgeschüttelt und diese Welt verlassen haben.

Aber was, wenn die Frage hier doch ganz anders steht? Nicht einfach nur „Sein oder Nichtsein?“ sondern „Sein wie die anderen“, oder „Nichtsein“? Das ist hier der Kern.

Wie würden die anderen in einem ähnlichen Fall entscheiden?

Ist doch klar – Rache üben an dem Mörder ihres Vaters.

Und wie soll es dann weiter gehen? Soll ich aus meinem Gedächtnis all die guten Worte und Taten auslöschen? All die guten Gedanken und Gefühle? Und stattdessen nur ein einziges Wort dort einpflanzen „Rache“?

 

2. Stimme (Ophelia):

(in einer zarten hellblauen Lichtblase, sie singt)

                  Zweifle an der Sonne Klarheit.

                  Zweifle an der Sterne Licht,

                  Zweif’l, ob lügen kann die Wahrheit,

                  Nur an meiner Liebe nicht.

 

Hamlet:

Das habe ich für sie gedichtet, für Ophelia. Ist nicht genial, aber es kommt von Herzen.

 

2. Stimme (Ophelia):

Da ist Vergissmeinnicht, das ist zum Andenken: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenkt meiner! Und da ist Rosmarin, das ist für die Treue.

 

Hamlet:

Kannst du mir sagen, warum du zum Wasser gegangen bist, wo du doch immer so wasserscheu warst?

 

2. Stimme (Ophelia):

Ich wollte Euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, als mein Vater starb. – Sie sagten, er nahm ein gutes Ende. –

 

Hamlet:

Das mit Polonius bedauere ich mittlerweile. Aber wahrscheinlich hat der Himmel es so gewollt. Ich dachte, es wäre der König. Polonius’ Leichnam habe ich weggeschafft, und ich muss auch diese Bluttat verantworten.

Ich, nicht du, Ophelia. Eigentlich war Polonius in seiner Geschäftigkeit nur ein alter, kläglicher, vorwitziger Narr. Doch er war ein guter Vater. Das Leben verstand er ohne große Einfälle. Da – der König, und da – der Hofbeamte. Schuster, bleib bei deinem Leisten.

Ganz einfache Weisheiten.–

 

3. Stimme (Polonius):

Dies über alles: sei dir selber treu,

Und daraus folgt wie Nacht dem Tage,

Du kannst nicht falsch sein gegen irgendjemand.

 

Hamlet:

Das schärfte er Laertes ein, seinem Sohn. Ist im, Grunde genommen, kein so übler Ratschlag. Laertes war ein guter Bursche. Aber, na ja, er war es, der mich hierher beförderte. Sein Vater gab ihm gute Ratschläge, aber der König nicht.

Warum ist das bloß immer so, dass aus einem edlen Gefühl eine Niedertracht hervorkommt?

Es stimmt, mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert. Dem Vater bringt er Verehrung entgegen, der Schwester – Liebe, dem König – Treue –. Und wohin hat das alles geführt? Armer Laertes! Nur gut, dass wir es geschafft haben, uns vor dem Tod noch gegenseitig zu vergeben.

Aber dieses Gerangel in Ophelias Grab war eine törichte Idee. Ich hätte das nicht machen sollen. Was wollte ich damit beweisen? Das meine Liebe größer, als die Liebe von vierzigtausend Brüdern ist?

Und was Ophelia denn davon?

Und es war auch die Einleitung zum Duell, zum tödlichen Finale.

 

10. Stimme (Die Königin):

                            Lebe wohl! – Ich hoffte,

Du solltest meines Hamlets Gattin sein,

Dein Brautbett, dacht’ ich, süßes Kind, zu schmücken,

nicht zu bestreuen dein Grab.

 

Hamlet:

Ach Mutter, Mutter! Habt Ihr denn diesem armen Mädchen gegenüber überhaupt keine Schuldgefühle?

 

Damals, in Muters Schlafzimmer, sagte ich ihr alles, was ich von ihr hielt. Ich war hart, aber nicht unmenschlich. Ich hätte noch mehr gesagt, aber der Geist kam dazwischen. Er befahl mir, sie zu schonen.

Dabei hat er mir wieder sein schreckliches Gebot in Erinnerung gebracht, nämlich – Rache an dem König. „Sein wie anderen“–.

Nun braucht man aber für ein Todesurteil schwerwiegende Beweise. Ich brauche sie zum mindesten.

 

Na ja, die Schauspieler kamen nach Helsingör wie gerufen.

 

Das war doch eine gute Idee, oder? Sie spielen vor dem Oheim „Gonzagos Ermordung“ mit den Anweisungen, die ich ihnen mitgegeben habe. Sie sollten die Szene von Vaters Ermordung nachstellen. Und ich wollte den König beobachten, wie er das Ganze aufnimmt.

 

Es war ein Schuss ins Schwarze! Der König hat sich verraten. Sprang auf und lief hinaus. Mit ihm die Königin und das ganze Gefolge.

Klar doch, dass in dieser Partie der König den nächsten Zug machen würde. Er musste mich schleunigst loswerden. So hat er mich nach England geschickt, dort wäre meine Ermordung dem Volke nicht so aufgefallen.

Als Begleitung kamen zwei Schulgesellen mit.

O Gott, wie konnten sie nur. –

 

5. Stimme (Rosenkranz):

Gnädiger Herr, Ihr liebtet mich einst.

 

Hamlet:

Ja, aber Verrat, der endet nie und nimmer gut.

Wie, übrigens, auch Mord.

Ich hätte schon viel früher den König töten können. Noch vor der Abreise nach England. Zum Beispiel, als ich zu meiner Mutter ging, und er, im Gebet vertieft, alleine da stand. Ein Stoß nur mit dem Schwert, und alles wär’ vorbei.

Jetzt versuche ich mich zu erinnern, warum ich es damals nicht getan habe. Ich glaube, ich wollte nicht, dass seine Seele direkt in den Himmel fliegt, nachdem sie gereinigt im Augenblick des Gebets war. Und überhaupt, wie soll man einen Menschen töten, der gerade betet? Sich zwischen ihm und Gott zu stellen? Wer hat das Recht dazu?

Ich nicht.

 

7. Stimme (Fortinbras, der Norwegische Prinz):

Sagt dem Dänenkönig, dass Fortinbrass auf sein Gestatten

Für den Versprochnen Zug durch sein Gebiet

Geleit begehrt.

 

Hamlet:

Dieser Fortinbras! Wann gibt er endlich Ruhe? Dann rückt er gegen Polen, dann kehrt er siegreich zurück. Hauptsache, der Krieg geht nie zu ende. Wo mehr Tote, da mehr Geld. Und das, so ganz ohne humanistische Flausen. Zig Tausende werden für irgendwelche nichtige Ambitionen geopfert. Und einen Vorwand für den Krieg findet man immer. Da ist jeder gut genug. Hauptsache, man bezeichnet irgendwelche schön klingende Ziele. Worte, Worte, nichts als Worte!

Es ist das Einfachste, „Sein wie die anderen“. An meiner Stelle hätte Fortinbras überhaupt keine Bedenken! Sich an dem König rächen? Wo ist das Problem? Zack, zack – fertig!

 

8. Stimme (der Totengräber):

Da sehen Sie, mein Herr, das ist der Schädel Yoriks, des alten Hofnarren. Dreiundzwanzig Jahre lag er in der Erde.

 

Hamlet:

Ich habe ihn gekannt. Und geliebt. Das war ein Bursche von unendlichem Humor, voll von den herrlichsten Einfällen.

Und wo sind nun seine Schwänke, seine Sprünge, seine Lieder, seine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Warum höre ich ihn nie?

 

9. Stimme (Horatio):

Wenn Eurem Gemüt irgendetwas widersteht, so gehorcht ihm.

 

Hamlet:

Das tue ich doch, Horatio, mein treuer Freund. Das tue ich –.

 

8. Stimme (Totengräber):

Ich bin hier seit dreißig Jahren Totengräber gewesen, in jungen und alten Tagen. Von allen Tagen des Jahres kam ich just den Tag dazu, da unser voriger König Hamlet den Fortinbras überwand. Es war denselben Tag, als der junge Hamlet geboren wurde, der nun toll geworden und nach England geschickt ist. Da fragte mich doch ein Herr vorhin, ob ich den Grund kenne. Ja freilich kenne ich den, es ist unser dänischer Grund und Boden.

 

7. Stimme (Fortinbras, der Norwegische Prinz):

Ich habe alte Recht’ an diesem Reich,

Die anzusprechen mich mein Vorteil heißt.

 

Lasst vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne

Gleich einem Krieger tragen: denn er hätte,

Wär’ er hinaufgelangt, unfehlbar sich,

Höchst königlich bewährt.

 

Hamlet:

He du, Totengräber, für wen ist denn dieses neue Grab?

Hörst du, ich frage dich, für wen das Grab ist?

He, sag doch was!

(Schweigen)

 

(Hamlets Gesicht löst sich in der Dunkelheit auf).

 

Ende

 

Aus dem russischen übersetzt von Melitta Neumann

Die Originalzitate wurden aus „Hamlet, Prinz von Dänemark“ nach der Schlegel–Tieck–Ausgabe letzter Hand genommen. Manche Zitate wurden etwas abgeändert, um sie an den Text anzupassen.

M. N.

Februar – März 2016

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