Von Zeit zu Zeit, vielleicht einmal in einer Generation, aber immer dann, wenn man es nicht erwartet, gibt es in der Literatur ein Erdbeben, das alles gehörig durchrüttelt. Es kommt immer aus einer Richtung, aus der man es niemals vermutet. Diesmal heißt das Erdbeben Karl Ove Knausgård und kommt aus Norwegen. Mit dem Kringel über dem „A“ spricht man den Namen ungefähr wie „Knausgord“ aus.
Was ist passiert? Knausgård schreibt dicke Bücher über sein eigenes Leben, über die Familie, den Vater, der Alkoholiker war, den Bruder, die Freunde, die Liebe, Arbeit, Kinder, Kindergeburtstage, die täglichen Einkäufe, Partys, Alkohol,die Ehe, Ehestreitigkeiten, Nachbarschaftsstreitigkeiten,Leseerlebnisse, Norwegen und Schweden. Alles, was es eben so gibt. 6 Bücher insgesamt, jedes ein 600 – 700 Seiten schwerer Schinken.
Der Buchmarkt in seiner Heimat reagierte hysterisch. In Norwegen wurden 500 000 Exemplare verkauft, das Wort Hype beschreibt es nur unzureichend. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl würde das bedeuten, ein Autor in Deutschland verkauft sich 10 Millionen Mal.
Angeblich mussten Firmen in Norwegen ihren Mitarbeitern untersagen bei der Arbeit über seine Bücher zu sprechen, weil wegen der ständigen Diskussionen die Produktivität sank.
Die Lektüre hat nämlich Suchtpotential, man kann die Bücher nicht mehr aus der Hand legen, auch wenn man sich erstaunt die Augen reibt, dass man soeben eine 100 Seiten lange Schilderung eines Kindergeburtstages gelesen hat! Ich wäre niemals auf die Idee gekommen einen Kindergeburtstag für literaturfähig zu halten. Geschweige dennihn auf 100 Seiten auszuwalzen.
Stellen Sie sich einmal vor, Leute wie Sie und ich würden einen tagebuchartigen Text über sagen wir die letzten 10 – 15 Jahre unseres Lebens verfassen. Wie würde das Ergebnis wohl in weiten Teilen aussehen? Seien wir ehrlich. Kapriziert oder langatmig? Selbstgerecht und humorlos? Vielleicht verstiegen undunbedeutend, solipsistisch und prätentiös? Wahrscheinlich eine Kombination aus alledem.
Und wie kann es dann angehen, dass bei Knausgårddavon gar nichts zu finden ist?
Im Original heißen die Bücher „Min Kamp“, also „Mein Kampf“. In der deutschen Übersetzung hat man wohlweislich auf die Provokation verzichtet, der Titel hätte zu schwer auf dem Buch gelastet. Es geht aber tatsächlich um einen Kampf, den des Protagonisten, also des Autors mit sich selbst und der Welt. Ein Charakter, der – nach eigener Darstellung – in der falschen Zeit lebt und am falschen Ort. Der bei sich selbst nur bei der Geburt des ersten Kindes ist, ansonsten eher neben sich steht und deshalb auf der Suche nach wahrhaftigen Momenten ist.
Es geht darum, dass „ich mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn alles wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht, alles, was ich traf, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt.“ (Lieben, S. 87)
Dabei ist er kein Misanthrop, versucht die anderen Menschen nicht von seiner Warte aus zu beurteilen, sondern ihnen gerecht zu werden. Alle Personen, die Knausgård beschreibt, haben ihre richtigen Namen. Der alkoholkranke Vater, die psychisch labile Ehefrau. Es handelt sich jedoch nicht um Schlüsselromane im eigentlichen Sinne, denn alles liegtoffen zutage. Dass sich einige der geschilderten Personen auf den Schlips getreten fühlten und juristische Schritte gegen die Bücher angestrengt haben, ist menschlich verständlich, literarisch verwunderlich, denn Knausgårds Offenheit kennt keine Schlüssellochintimität, nichts Menschliches ist ihm fremd.
Die unbedingte Suche nach dem Authentischen ist in der Literatur nichts Ungewöhnliches, und man glaubte, dass in der langen Geschichte der Selbstoffenbarung seit Augustinus eigentlich schon alles gesagt worden ist, dass die Überbietungen der Selbstoffenbarungspätestens irgendwann in den 70ern des letzten Jahrhunderts endlich an ihr wohlverdientes Ende gekommen sind.
Doch Knausgårdkommt ganz ohne die damals gängige neoromantische Attitüde, und vor allem ohne den monomanischen Manierismus aus.
Der Autor versteht es immer wieder ein schwankendes Gleichgewicht zu halten zwischen dem Gefühl der Fremdheit und dem Pathos ihrer Verkündigung:Anhand einer neuerlichen Dostojewski-Lektüre stellt Knausgård fest, dass wir uns in einer gleich weiten Entfernung zu allem befinden, auch zu dem angeblich Dämonischen oder Bösen oder sonstwie Endgültigen.
Es wirkt ungemein erleichternd, wenn das Gefühl der Fremdheit nicht als heroisches Aufbäumen daher kommt, nicht als Zorn, der sich kritisch geben muss. Es ist eben so. Und das analytische und/oder psychologische Besteck ist zwar da, aber es bleibt in der Schublade.
Die Fülle der Welt bewältigt Knausgård hingegen mit homerischem Takt. Wie ein moderner Odysseus segelt das Ego auf einer Irrfahrt durchs Leben, einigermaßen unbeschadet zwischen Kindergeburtstag und Geburtsvorbereitungskurs hindurch. Wir hängen uns an seine Fersen und lauschen seinem Mantra:
„Wenn ich in diesen Jahren etwas gelernt habe, was mir gerade in unserer Zeit ungeheuer wichtig erscheint, die vor Mittelmäßigkeit förmlich überquellt, dann ist es folgendes:Du sollst nicht glauben, dass du jemand bist.Du sollst verdammt noch mal nicht glauben dass du jemand bist.Denn das bist du nicht. Du bist nur ein eingebildeter, mittelmäßiger, kleiner Furz.…Also senke dein Haupt und arbeite, du kleiner Furz. Dann holst du wenigstens etwas aus dir heraus. Halt dein Maul, senk den Kopf, arbeite und vergiss nicht, dass du keinen Furz wert bist.“ (Lieben, S. 665)