Hauke Hansen, Mord auf Mallorca
Roman
1. Gute Nachrichten
„Wir leiten jetzt den Sinkflug ein!“
Es war Montag, 07.30 Uhr, MEZ, seit dem Start in Hamburg leuchteten, die Anschnallzeichen ununterbrochen und ich hatte nur zwei Drinks geschafft, weil die Flugbegleiterinnen die meiste Zeit mit keusch gefalteten Händen angeschnallt auf ihren Klappstühlen saßen.
Das will was heißen. Turbulenzen über Norddeutschland, Turbulenzen über den Mittelgebirgen, jenseits und diesseits der Alpen. Die ganze Zeit. So etwas hatte ich noch nicht erlebt.
In meinem Magen schwappte eine bedrohliche Mischung aus lauwarmem Haake-Beck von heute Nacht und Tomatensaft mit Schuss von heute Morgen. Bloody Mary trinke ich nur im Flugzeug, am Boden kriege ich das Zeug nicht runter.
Ich hatte mich den Umständen entsprechend einigermaßen im Griff, was man von meinem Sitznachbarn leider nicht sagen konnte. Er schwitzte und hielt schon seit zwei Stunden den Kotzbeutel fest umklammert. Immer wenn ich ihn ansah, ging es mir besser.
„Wir landen in etwa 10 Minuten!“
Der Pilot legte in seine Stimme diese Extraportion Zuversicht, die allen signalisiert, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen. Genauso hatte sich Doro gestern Abend angehört, als sie sagte ’Wir können doch Freunde bleiben!’
Der Kapitän meinte es ernst: Wir sanken. Wir sackten! Ein ‚Huch’ ging durch die Kabine, mein Nachbar stöhnte, ich konzentrierte mich auf den Haarkranz meines Vordermanns.
„Lieber ein Ende mit Schrecken.“ Hatte Doro auch noch gesagt.
Dann holperten wir wie auf einer alten DDR-Autobahn minutenlang durch eine wattige Wolkenschicht. Lichter blitzten auf. Und plötzlich war alles ruhig.
Wie im Himmel!
Kein Rütteln, kein Schütteln, keine Turbulenzen. Keine Wolken, nur Sonne. Die Triebwerke schnurrten wie Nähmaschinen.
Aber jemand gab Gas. Der Flieger kippte ziemlich abrupt die Nase nach vorn und drehte nach schräg rechts. Mein Nachbar seufzte wieder. Ich lehnte mich etwas zu ihm rüber und konnte das kristallblaue Mittelmeer sehen. Von rechts leckte eine schmale Landzunge ins Meer, das musste Cap Formentor sein.
Das Flugzeug kippte nach links. Der Pilot konnte sich offenbar nicht entscheiden. Wusste er überhaupt, was er tat? Oder war da wieder ein Azubi am Steuer, wie vor ein paar Jahren beim Landeanflug auf Hamburg, als die Tragflächen fast die Rollbahn berührt hatten.
Die Amateurvideoaufnahmen gingen um die Welt, Fotos vom Beinahe-Crash waren der Aufmacher fast aller Zeitungen, auch unserer. Nichts ist schließlich beruhigender für die Leser, als ein Unglück, an dem man nicht beteiligt ist.
Aber für mich war das ein merkwürdiges Gefühl. Ich meine nicht nur, weil es mein Beinahe-Unglück war. Normalerweise sind das nämlich zwei strikt getrennte Welten: eine Zeitung machen und in der Zeitung stehen.
Es sei denn, du heißt Helmut Schmidt.
Ansonsten liegen zwischen diesen beiden Welten Abgründe: der Stille Ozean der politischen Ausgewogenheit und der Grand Canyon unseres journalistischen Berufsethos. Und die Kalahariwüste der Neutralität.
Jedenfalls war es das erste Mal, dass ein Foto von mir in meiner Zeitung war. Zumindest indirekt: das Foto von dem Flugzeug, in dem ich saß. Die beiden Welten hatten sich berührt!
Der Flieger kippte wieder nach rechts unten. Wir schwebten jetzt auf Palma zu, links war das windstille blaue Meer und rechts die unbewegten weißen Windmühlen. Drumherum Sonnenschein. Das Leiden hatte ein Ende!
Ich nahm zum dritten Mal das dünne Hochglanzmagazin mit dem dümmlichen Titel „sky unlimited“ in die Hand, das im Vordersitz gleich neben den Instruktionen für eine Wasserlandung steckte. Zum dritten Mal las ich den Artikel über die großen Flughäfen dieser WeIt. Eine Berufskrankheit! Das Zeitunglesen, meine ich.
Nicht nur wenn ich angeschnallt bin und nicht weglaufen kann, es ist ein Reflex: Wenn irgendwo etwas Gedrucktes herumliegt, stürze ich mich darauf wie ein Geier auf einen überfahrenen Feldhamster an der Bundesstraße. Mein Freund und Kollege Sieke nennt es Lektomanie. Aber der ist ja auch Fotograf und stolz darauf, dass er noch kein einziges Buch zuende gelesen hat.
Am liebsten lese ich sogar während des Frühstücks die Angaben auf Milchtüten, Margarine- und Käsepackungen. Immer und immer wieder. Laut!
Ob Doro mich deshalb verlassen hat?
Den Artikel konnte ich jetzt fast auswendig. Er begann mit dem Satz „Flughäfen verraten – wie die Lobby über ein Hotel – alles Wissenswerte über ein Land, sie sind seine Visitenkarten“, und endete mit „Die ersten drei Minuten entscheiden über die Einstellung zu dem Land, in das man fliegt.“
Wow! Na klar, der erste Blick auf eine Frau, das erste Kapitel eines Romans, die Schlagzeile einer Zeitung, überhaupt das erste Mal, das alles ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Ereignisse. Aber Flughäfen? Der Kollege hatte bestimmt außer Hotels, Flughäfen und Spesenabrechnungen nicht viel von der Welt gesehen.
Gott sei Dank brauchte ich mir über meine Einstellung zu dem Land keine Gedanken zu machen, ich lebte und arbeitete auf Mallorca nun schon seit zehn Jahren.
Außerdem ist es ja nicht mal ein Land, es ist bloß eine Insel!
Endlich konnte ich die Landebahn sehen, wir schwankten ein bisschen, sackten hinten runter und setzten plötzlich mit einem kleinen Hüpfer und quietschenden Reifen auf. Ich hatte wieder ein paar Bonusmeilen mehr, der Nachbar seufzte.
Die Leute klatschten und johlten. Entweder, weil sie wussten, dass sie noch einmal mit dem Leben davon gekommen waren, oder weil sie glaubten, das gehörte bereits alles zum All-Inclusive-Programm.
Ich klappte „sky unlimited“ endgültig zu und steckte die Zeitschrift in die Tasche des Vordersitzes zurück.
Da alle Flugsteige belegt waren, mussten wir draußen auf dem Rollfeld aussteigen, und wie jedes Mal bei dieser Gelegenheit war ich nicht auf den Schock vorbereitet: Ich trat auf die Gangway und prallte gegen die heiße Luft wie gegen eine Gummiwand.
Ich hielt den Atem an.
Aber nicht zu lange. Keine drei Minuten. Ich tat dann das, was Bill Clinton angeblich nicht getan hatte: Ich inhalierte. Ich sog die heiße Luft tief in meine Lungen, behielt sie dort ein Weilchen und drückte sie dann stoßweise wieder raus: pff, pff, pff.
Genau so hatte ich es damals im evangelischen Jugendklub in Hamburg-Harburg bei Haschisch-Heiner gelernt. Es ist zwar schon lange her, aber manche Dinge verlernt man eben nicht.
Und es funktionierte. Ich atmete tief durch, mir schwindelte. Puh! Ich atmete wieder, ich war high. High von nichts als Luft. Dicke, heiße Luft, die hier überall ist, außen und innen. So, als ob sie hier zuhause wäre.
Wir betraten den Aeroport Son Sant Joan durch einen Hintereingang und wurden gleich wieder auf Hamburger Temperatur runtergekühlt. Meine lieben Mitreisenden hasteten zur Gepäckausgabe, tippten begeistert in ihre Handys und starrten dann gierig auf das noch leere Transportband wie die Yuppies in Hamburg-Eppendorf auf die vorbei gleitenden Sushiteller.
Ich hatte nur Handgepäck und machte mich direkt auf den Weg durch die kilometerlangen Gänge des Flughafens. Wenn der Flughafen wirklich wie das Land ist, dann ist Mallorca unendlich groß, kalt und menschenleer. Werch ein Illtum!
Große Pulks von Menschen kamen mir auf einmal entgegen, mit aufgequollenen Gesichtern, rot wie Feuermelder. Die meisten trugen als Souvenirs pizzaschachtelgroße Kartons mit Ensaimadas unter dem Arm.
„Sie kommen als Bleichgesichter und gehen als Rothäute!“ Sagt Sieke immer.
Gewöhnlich holt er mich vom Flughafen ab. Nur heute hatte er angeblich eine ‚dringende Sache’ zu erledigen.
Ich steuerte die nächstgelegene Bar an und bestellte einen Gin Tonic.
„Jedes Land hat sein passendes Getränk!“
Das sagt Hauke Hansen immer!
In Hamburg schmeckt mir Gin Tonic einfach nicht. Ich habe es oft genug probiert. Vielleicht, weil dort das helle Licht fehlt, das diese silbern schillernden Schlieren ins Glas zaubert.
Ich nahm vorsichtig einen ersten Schluck. Bittersüß wie das Leben selbst rann das Getränk die ausgetrocknete Kehle hinunter, direkt in meine dunkle, verlassene Seele.
An einem Kiosk gegenüber sah ich die druckfrische Ausgabe unserer Zeitung in einem Ständer stecken. Sieke hatte die Endredaktion übernommen, solange ich in Hamburg war. Ich vertraute ihm blind.
Aber ich traute meinen Augen nicht. Auf der Titelseite des El Alemán prangte Schwarz auf Weiß, riesengroß und unumstößlich die Schlagzeile:
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