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Juli Zeh, Corpus Delicti, 2009

Der teuflische Mephistopheles in Goethes Faust definiert sich selbst als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und nur das Gute schafft.“ Goethes Denken war zutiefst dialektisch geprägt. In der Geschichte kennen wir die umgekehrte Dialektik: Eine Utopie schlägt in eine Katastrophe um.

Diese Erfahrung erscheint in vielen dystopischen Romanen und Filmen als Grundmuster, beispielhaft in Animal Farm und 1984 von George Orwell. Ein Gesellschaftssystem, das utopischen Idealen folgt, wird als ein manipulatives Unterdrückungsregime entlarvt, das mit Überwachung, Gewalt und Sprachkontrolle unbedingte Macht ausübt. Orwell karikierte mit beiden Werken bekanntermaßen den Totalitarismus des stalinistischen Sozialismus.

Der Wortsinn von „Utopie“ hätte uns aber schon selbst eine Lehre sein können: U-Topie oder A-Topie (topos: der Ort) ist der Nicht-Ort, der, wenn man ihn verorten, also realisieren will, beinahe naturgesetzlich ein Ort des Schreckens und der Unterdrückung wird. Ein Nicht-Ort kann als Ort nicht funktionieren.

Juli Zehs dystopischer Roman Corpus Delicti entwirft eine Gesellschaft irgendwo in Europa in der Mitte des 21. Jahrhunderts, die als staatliches Gebilde unscharf bleibt. Es gibt Überwachungs- und Sanktionsmaßnahmen wie in jeder anderen guten Diktatur auch, wir erfahren aber wenig über das Regierungssystem oder die politische Verfasstheit. Der Staat erinnert weniger an Nordkorea als vielmehr an Putins Russland. Es gibt noch Medien, in denen zumindest rudimentär nichtstaatskonforme Auffassungen zur Sprache kommen, aber staatliche Kontrolle verbindet sich erfolgreich mit sozialem Druck. Gewalt wird ausgeübt, kommt aber unter dem Deckmantel formal-juristischer Verfahren daher.

Das Programm dieser deliberativen Gesellschaft heißt schlicht verallgemeinert DIE METHODE. Die Methode erhebt den typisch utopischen Anspruch, das allgemeine und persönliche Wohl in Übereinstimmung zu bringen. Die angestrebte Übereinstimmung gilt den „Methodisten“ als normal, denn „außerhalb der Normalität herrscht Einsamkeit.“

Die Unterdrückung persönlicher Freiheiten und das Waschen von Gehirnen gehört zur Grundausstattung diktatorischer Regime. Deren erneute literarische Demaskierung wäre wenig originell. Was Corpus Delicti auszeichnet, ist jedoch der Fokus auf die Gesundheit und den Körper insgesamt. Der kriminologische Terminus Corpus Delicti bezieht sich dann nicht nur auf das Werkzeug (corpus), mit dem die Tat (delictus) ausgeführt wird, sondern der Körper (auch: corpus) ist selbst verdächtig. In einer Gesundheitsdiktatur, wie sie in Zehs Roman porträtiert wird, ist jede Maßnahme, die nicht strikt der körperlichen Optimierung dient, grundsätzlich suspekt und subversiv. Jeder Bewohner, der nicht in seinem Hometrainer den vorgeschriebenen Mindestumsatz an Kalorien verbraucht, wird erfasst, befragt, gemaßregelt und gegebenenfalls bestraft – (ein Schuft, der dabei nicht an das chinesische Modell der sozialen Überwachung denkt).

Aus dem Gespinst von staatlicher Überwachung, Propaganda und sozialem Druck kann sich – im dystopischen Narrativ, aber eher nicht in der Realität – nur ein einzelnes, autonomes Individuum befreien. Ein Einzelner, der die kantische Maxime der Aufklärung „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ realisiert.

In diesem Roman ist es ein junger, aufsässiger Mann, Moritz, der Widerstand leistet und dafür mit seinem Leben bezahlen muss. Seine Schwester, die Hauptfigur Mia ist als Naturwissenschaftlerin zunächst von der Objektivität der Gesundheitsparameter und der Notwendigkeit ihrer Durchsetzung überzeugt (Wer will nicht gesund sein? Wer fürchtet nicht den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme, Chaos, und Krankheit durch gesundheitsschädliches Verhalten wie Rauchen, Völlerei und übermäßigen Alkoholkonsum?). Langsam aber durchschaut sie immer mehr, dass die an sich gute Idee der Gesundheitsvorsorge längst in gesellschaftliche Tyrannei umgeschlagen ist. Spannend bleibt, ob ihr Widerstand Erfolg haben wird.

Individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, das können wir nach der Lektüre jedenfalls festhalten, sollte immer ein größerer Wert sein als unbedingte gemeinschaftliche Übereinstimmung und eine Diktatur der Fürsorge. Vor dem nächsten Besuch in einem Fitnessstudio oder der Lektüre eines Gesundheitsratgebers sei die Lektüre dieses Romans dringend empfohlen.

Holger Schwenke

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