Berlin in den 20er und frühen 30er Jahren taugt bis heute immer wieder gut als Vorlage, wenn es darum geht in der Geschichte nach Beispielen für eine „Zeitenwende“ zu suchen. Die „Weimarer Republik“ als prekäres politisches Projekt, wirtschaftliche, politische und kulturelle Krisen und Umwälzungen, der „Tanz auf dem Vulkan“, „Babylon Berlin“. Und wir wissen natürlich, dass es für die „goldenen 20er“ kein happy end gab.
Kleine und große Katastrophen sind für Fabian, dem titelgebenden Helden aus Erich Kästners Roman, „das tägliche Pensum. Nichts Besonderes“. Zumindest gibt er sich den Anschein der Abgebrühtheit, denn dem „Moralisten“ in Fabian gehen die Dramen und Katastrophen sehr wohl ans Herz und er versucht sich – nicht immer erfolgreich – hinter einer Attitude von Gleichgültigkeit und Coolness zu verstecken.
Die urbane Geselligkeit ist für Fabian Lebenselixier und Labor für neue Lebensstile zugleich. Was möglich ist, wird ausprobiert. Man macht mit und man schaut zu. Die tägliche Zeitungslektüre heizt die Spannung an. Fabian – Beruf: „irgendwas mit Medien“ – sitzt in einem Café in Berlin und liest von den kleinen und großen Katastrophen: „Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Bevorstehender Streik von 14 000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chicago…“ Das Tägliche Pensum. Nichts Besonderes eben. Und irgendwie kommt es dem heutigen Leser unangenehm bekannt vor.
Die unscheinbare Szene ist typisch für die besondere Form eines künstlerisch neuen Realismus in dieser Zeit, der fast ungeschnitten und ungefiltert nur sammelt und zusammenmontiert, was in der Welt geschieht. Neue Sachlichkeit nennt sich diese Literatur- und Kunstströmung, die stenografisch verkürzt, direkt und ohne Kommentar den alltäglichen Dingen Raum gibt. Die Menschen haben Zahnschmerzen, Liebeskummer und nehmen morgens um acht die U-Bahn, um zur Arbeit zu fahren. Wenn sie denn 1930 eine Arbeit haben.
Fabian ist Angestellter und ist – wie fast alle anderen – infolge der Wirtschaftskrise jederzeit von Kündigung bedroht. Fabians Freund Labude will deshalb – wie viele andere – das große Ganze ändern: „Erst muss man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen.“ Der Systemsprenger Labude wird tragisch scheitern. Am System natürlich.
Fabian ist weniger an den großen Systemfragen interessiert, mehr an den einzelnen Menschen, – und deshalb immer schon desillusioniert: „Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keins.“ Wie in jedem guten Pessimisten steckt auch in Fabian ein enttäuschter Idealist: „Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen.“
Dieses genaue Hinschauen leistet Kästner in seinem Roman gekonnt, und er schont die Leser nicht. Wir lernen das kleine und das große menschliche Elend kennen. Wir sehen Menschen zu, die ihre Seele und ihren Körper verkaufen, die zu Dienstleistern ihrer selbst werden. Das System durchdringt das Berufsleben genauso widerstandslos wie das Privat- und Gefühlsleben. Man passt sich an oder scheitert. Widerstand ist zwecklos – ein Schuft, der dabei an den Neoliberalismus unserer Zeit denkt.
Und Fabian ist auch einer, der mitmacht und manchmal versucht nicht mitzumachen. Die „Geschichte eines Moralisten“ ist eine Geschichte, die nicht gut ausgeht. Er kann nicht verhindern, dass er sich verliebt, und die Geliebte, die ihn auch liebt, kann nichts dafür, dass die Zeiten für Liebe gerade nicht die besten sind. Sie passt sich an, denn überleben ist wichtiger als die Liebe.
Am Ende bleibt dem Protagonisten nur der Ausstieg: Er flüchtet aus der Stadt zurück in die Provinz und muss feststellen, dass auch dort die gesellschaftlichen und psychologischen Verwerfungen längst angekommen sind. Es gibt keinen Ausweg. Nirgends.
Holger Schwenke